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Pandemie:"Es gibt einen großen Graubereich"

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Die Hospitalisierungsrate ist nach wie vor ein entscheidender Richtwert für politische Maßnahmen. Doch Kritiker beklagen, dass auch Zufallsbefunde, häufig ohne Symptome, mit aufgenommen werden. Ein Gespräch mit Christian Karagiannidis, Mitglied des Corona-Expertenrats.

Von Michaela Schwinn

Gebrochenes Bein, aber keine Atemnot. Entzündeter Blinddarm, aber keine entzündete Lunge: Während der Omikron-Welle liegen immer mehr Patienten in den Krankenhäusern, die zwar positiv auf Covid-19 getestet wurden, aber keine oder kaum Symptome einer Corona-Erkrankung zeigen. Dass diese trotzdem in die Hospitalisierungsrate einfließen - die maßgeblich ist für die Einführung oder Lockerung der Corona-Maßnahmen - wurde zuletzt von Experten und Politikern kritisiert. Braucht es also einen ganz neuen Richtwert, um die Schwere der Pandemie zu bestimmen? Ein Gespräch mit Christian Karagiannidis, Intensivmediziner und Mitglied des Corona-Expertenrates der Bundesregierung.

SZ: Herr Karagiannidis, beobachten auch Sie den Trend, dass viele Patienten "mit" aber nicht "wegen" Covid-19 im Krankenhaus liegen?

Christian Karagiannidis: Es stimmt, seit der Omikron-Welle sind auch bei uns im Krankenhaus - neben schwer erkrankten Intensivpatienten - vermehrt auch Menschen, die zwar mit Corona infiziert sind, aber keine Lungenentzündung oder Atemnot haben. Klassische Beispiele: ein Kind mit gebrochenem Arm oder eine Schwangere zur Entbindung, deren Corona-Test bei der Aufnahme in die Klinik zufällig positiv ausfällt. Auch ihre Fälle werden mitunter dem Robert-Koch-Institut gemeldet und somit in die Hospitalisierungsrate einberechnet, auch wenn es die klare Vorgabe gibt, dass "der Grund der Aufnahme in Zusammenhang mit der Covid-19-Erkrankung" stehen muss.

Belastet Omikron die Kliniken also weniger, als die Hospitalisierungsrate vorgibt?

Davon abzuleiten, dass die Hospitalisierungsrate kein zuverlässiger Richtwert mehr ist, halte ich für falsch. Zum einen bedeuten alle Covid-Patienten - egal ob mit Corona-Symptomen oder nicht - immer einen höheren Arbeitsaufwand: Sie müssen isoliert und überwacht werden, das Personal muss Schutzkleidung tragen und diese regelmäßig wechseln. Außerdem gibt es einen großen Graubereich. Darunter fallen Diagnosen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, die immer auch in Zusammenhang mit Covid-19 stehen können. Wo die Hospitalisierungsrate aktuell tatsächlich an ihre Grenzen stößt, ist die Ableitung der Krankheitsschwere alleine aus diesen Daten. Also: Wie hoch ist die Krankheitslast in der Bevölkerung?

Müsste also doch nachgebessert werden bei den derzeitigen Richtwerten?

Nach der Omikron-Welle müssen wir noch mal grundsätzlich überlegen, wie wir künftig die Pandemie vermessen wollen. Es wird wichtig bleiben, wie viele Infizierte im Krankenhaus liegen und wie viele Intensivbetten belegt sind. Aber es sollten noch andere Werte dazugenommen werden, etwa wie viele Menschen gerade an einer Atemwegsinfektion leiden. Aus all diesen Daten müsste man einen Richtwert bilden. Andere wichtige Informationen fehlen in Deutschland aber schlichtweg: Ist Corona Haupt- oder Nebendiagnose? Wie viele Patienten kommen mit Atemwegserkrankungen in die Notaufnahme? Wie viele Ärzte und Pflegekräfte arbeiten auf den Stationen? Auch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie sind diese Daten noch immer nicht aktuell verfügbar, dabei bräuchten wir sie ganz dringend, um die Lage besser einschätzen zu können. Das ist ein großes Versäumnis.

Was müsste jetzt konkret passieren?

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen muss massiv vorangetrieben werden. In den letzten 20 Jahren ist in diesem Bereich in Deutschland fast nichts passiert. Wenn wir die Pandemie unter Kontrolle bringen wollen, brauchen wir endlich ein wirksames Überwachungssystem. Unerlässlich dafür ist eine elektronische Patientenakte, auf der alle Diagnosen, Befunde und Therapien gespeichert sind. Zusätzlich müssen Daten über das verfügbare Klinikpersonal und alle freien Krankenhausbetten von einer zentralen Stelle gesammelt und ausgewertet werden. Am besten wäre ein eigenes Bundesinstitut, das sich dieser Aufgabe annimmt. Nur so werden wir neue Ausbrüche von Covid-19, aber auch Influenza und anderen Atemwegsinfektionen frühzeitig erkennen - durch die Lockerungen könnten diese im Herbst besonders stark ausfallen. Wenn wir die zentrale Datenerfassung bis Ende des Jahres nicht hinbekommen, werden wir vor nicht unerheblichen Problemen stehen.

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