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KZ-Prozess in Hamburg:"Einer der Gehilfen dieser Hölle"

Lesezeit: 4 min

In einem historischen Urteil spricht das Landgericht einen ehemaligen SS-Wachmann im KZ Stutthof schuldig der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen. Es war wie Schmiere stehen, sagt die Richterin, "während Verbrecher grausam Menschen vernichteten".

Von Peter Burghardt, Hamburg

An einem milden Vormittag im Juli 2020 fällt das Urteil über diesen alten Mann, der als junger Mann vor 75 Jahren im KZ Stutthof einen Massenmord beschützt hatte. Draußen vor dem Hamburger Strafjustizgebäude versammeln sich wie immer im Laufe dieses Verfahrens gegen Bruno D. ein paar Demonstranten mit Plakaten. "Gegen das Vergessen" steht darauf. "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg" und "Auschwitz-Komitee".

Drinnen wird der 93-jährige Angeklagte im Rollstuhl in den Saal 300 geschoben, einen Hut auf dem Kopf und einen Aktendeckel vor dem Gesicht. Seit sein Fall trotz der Pandemie weiterging, sitzt er hinter Plexiglas und wird von einem Arzt begleitet.

Dann erhebt die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring das finale Wort, eine nachdenkliche und resolute Frau. "Im Namen des Volkes" ergehe folgendes Urteil, sagt sie, und natürlich klingt es besonders in diesem Moment, es ist einer der letzten NS-Prozesse. Das Landgericht Hamburg verurteilt Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und einem versuchten Mord zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt auf Bewährung.

Verhandelt wurden diese Verbrechen aus der Nazizeit nach dem Jugendstrafrecht, vor einem Jugendgericht. Es geht hier nicht um diesen hoch betagten Rentner - es geht um den 17- bis 18-jährigen Bruno D., der von August 1944 bis April 1945 als Mitglied der SS auf einem Turm im KZ Stutthof bei Danzig aufpasste, dass kein Häftling entkam, ein Gewehr in der Hand. Wie Schmiere stehen, sagt Anne Meier-Göring, "während Verbrecher grausam Menschen vernichteten".

Mindestens 65 000 Gefangene wurden in diesem Lager umgebracht, viele von ihnen Juden. Vergast, erschossen, erhängt, verhungert, zu Tode gearbeitet oder vom Fleckfieber getötet. 5232 Ermordete waren es nach Ansicht der Richter in der Dienstzeit von Bruno D., Sohn eines Bauern vom Dorf und gelernter Bäcker.

Das Argument von Unwissen und Befehlsnotstand lässt Anne Meier-Göring nicht gelten

Ins Gefängnis muss er in seinem hohen Alter nun nicht, die Staatsanwaltschaft hatte drei Jahre Haft beantragt. Gefängnis wollten ihm auch einige Nebenkläger ersparen, unter ihnen Überlebende dieses Schreckens. Aber statt eines Freispruchs, wie von der Verteidigung gewünscht, ist es ein eindeutiger Schuldspruch, wie es ihn in dieser Art noch nie gegeben hatte.

Das Hamburger Landgericht konnte sich nicht allein an den Fällen von den ehemaligen KZ-Wärtern John Demjanjuk oder Oskar Gröning aus Vernichtungslagern orientieren, auch wenn damit die späte Grundlage für eine Rechtsprechung gelegt wurde, auch Helfer der Schoah zur Rechenschaft zu ziehen. Beide waren zur Zeit ihrer Taten schon älter. Die Richterin Meier-Göring befand über einen seinerzeit noch jugendlichen SS-Wachmann, der in ein KZ abkommandiert worden war, das vom Arbeitslager zur Vernichtungsstätte wurde.

D. hatte sich bei seinem Schlusswort am Montag bei Opfern und Angehörigen entschuldigt. "Hölle des Wahnsinns" nannte er Stutthof. Doch er konnte in den 44 Prozesstagen seit Oktober 2019 nie verstehen, warum er in diesem Gerichtsraum saß. Er sprach von Toten und ausgemergelten Körpern, die er gesehen hatte; an vieles andere wollte oder konnte er sich nicht erinnern.

Er sagte, dass er selbst nichts getan hätte und gegen die Befehle nichts tun konnte. Er klagte darüber, dass ihm sein Lebensabend zerstört werde. "Sie sehen sich weiterhin als Beobachter dieser Hölle des Wahnsinns", sagt jetzt Anne Meier-Göring, "und doch waren Sie einer der Gehilfen dieser menschgemachten Hölle."

Eineinhalb Stunden lang erläutert sie das Urteil, wuchtig und einfühlsam. Das Gericht rechnet es Bruno D. an, dass er die Verhandlung durchgestanden, dass er Fragen beantwortet und zugehört hat. Es hat sein junges Alter als SS-Wächter berücksichtigt, seine Unreife, seine autoritäre Erziehung und Angst vor der Macht. "Wir zeigen nicht mit dem Finger auf Sie", sagt Anne Meier-Göring.

Niemand wisse heute, wie er selbst reagiert hätte, sie erwähnt die Gnade der späten Geburt. Doch Argumente wie Unwissen und Befehlsnotstand lässt sie nicht gelten. Menschen sei im KZ Stutthof Entsetzliches angetan worden, ein Rechtsstaat bestrafe das auch am Ende eines Lebens. "Denn Mord verjährt nicht."

Warum jetzt? "Warum erst jetzt?", fragt sie und kennt die Antwort. Weil die deutsche Justiz Befehlshaber und Untergebene der NS-Herrschaft jahrzehntelang in Ruhe ließ. Da habe sich Deutschland "noch einmal schuldig gemacht." D. war schon 1982 erstmals verhört worden, ohne Folge. Meier-Göring missfällt auch die Metapher vom "Rädchen in der Tötungsmaschine", die auch von der Staatsanwaltschaft verwendet wurde.

"Nein", sagt sie, "der Angeklagte war kein Rädchen. Er war ein Mensch." Es gehe um einen "von Menschen organisierten Massenmord an Menschen."

Die Metapher von der Tötungsmaschinerie schaffe Distanz, wie sie wohl viele in Deutschland und seiner Justiz wollten. Man spürt kurz die Stille im Gerichtssaal, obwohl die meisten Journalisten wegen Corona über einen Lautsprecher in einem Nebenraum zuhören.

"Sie hätten in Stutthof nicht mitmachen dürfen", sagt Meier-Göring. Bruno D. hätte angesichts der monströsen Verbrechen vor seinen Augen zumindest eine Versetzung versuchen müssen, auch wenn es wohl eine Versetzung an die Front gewesen wäre. "Sie, Herr D., haben dem Sterben zugesehen und es bewacht."

Er musste es sehen und riechen, die Gaskammer, das Krematorium, die Leichenberge. Auch zugeschaltete und angereiste Zeugen bestätigten das, ebenfalls hochbetagte Männer und Frauen aus mehreren Ländern. Gerade die, die auf den Türmen standen, "konnten alles sehen", sagte Rosa Bloch, 89, die Stutthof überlebt hat.

Um diese Überlebenden und Nebenkläger ging es dem Landgericht vor allem. "Wir haben Ihnen zugehört und verstanden", sagt Anne Meier-Göring. Sie wollten "Zeugnis ablegen über das, was Ihnen angetan wurde. Sie haben es geschafft."

Der Angeklagte weinte im KZ - weil er seine Familie vermisst hat

Bei Bruno D. kann sie keine seelische Pein aus jenen achteinhalb Monaten Wachdienst im KZ Stutthof erkennen, nur Anpassung und Abstumpfung. Einmal habe er dort geweint, weil er so weit weg von der Familie gewesen sei. "Hätten Sie doch Ihr Gewissen mehr angestrengt, Herr D.

!" Sie wechselt kurz in die Neuzeit: "Achtet die Würde des Menschen. Um jeden Preis. Auch zum Preis der eigenen Sicherheit. Das ist die Botschaft dieses Verfahrens."

Bruno D. muss nur seinen Anwalt bezahlen, die übrigen Kosten des Verfahrens übernimmt der Staat. "Sie waren Gehilfe eines im wesentlichen vom deutschen Staat begangenen Unrechts", sagt die Richterin. Binnen einer Woche kann Bruno D. gegen das Urteil Einspruch einlegen.

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SZ vom 24.07.2020
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