Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Gedenktag:Ein Verbrechen verliert seine Zeugen

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Die letzten Überlebenden des Holocaust sterben. Es wäre gut, sie anzuhören, wo es geht. Der Bundestag hat diese Chance vertan.

Thorsten Denkler

Es ist ein Zeichen des Zorns und der Verbitterung, den der Zentralrat der Juden an diesem Tag aussandte. Seine Vertreter bleiben der Feierstunde zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag erstmals fern.

Sie fühlen sich missachtet, als Überlebende des Holocaust nicht ausreichend gewürdigt. Es gibt dafür kein aktuelles Ereignis, keinen finalen Auslöser. Es ist nur so, dass die Vertreter des Zentralrates schon wieder lediglich auf der Besuchertribüne Platz nehmen sollten, ohne formelle Begrüßung.

Man mag das für kleinkariert halten, weil der Zentralrat sich ja immer schnell aufregt. Es ist aber nicht kleinkariert. Die Überlebenden des millionenfachen Mordes an den Juden sterben aus. Es sind nur noch wenige, die mit eigenen Worten wiedergeben können, was sie erlebt haben.

Viele von denen, die die Schreckenherrschaft der Nazis am eigene Leib erleiden mussten, die Mütter, Väter, Brüder und Schwestern verloren haben, waren damals Kinder. Die Erinnerungen haben sich in ihre Seelen gebrannt. Die Schmerzen sind so nah, als wäre alles gestern geschehen.

Gedenken wird immer schwieriger, wenn es keinen mehr gibt, der alles mit eigenen Augen gesehen hat. Die Generation der Überlebenden ist die Generation der Mahnenden. Solange sie leben, ist der Holocaust mehr als eine wissenschaftliche Debatte, mehr als ein Über-etwas-Reden, Nachdenken. Er ist nacherlebbare, authentische, anfassbare und nicht in Zweifel zu ziehende Geschichte.

Darum ist es fast schon fahrlässig, dass beim Gedenken im Bundestag niemand aus dieser Generation spricht, sondern ausschließlich jene, die das Glück der späten Geburt haben. Der Holocaust ist schon nicht mehr jüngste deutsche Geschichte. Diesen Platz hat die Wiedervereinigung eingenommen. Die Erinnerung droht zu verblassen.

Der Holocaust ist eben mehr als nur ein schreckliches historisches Ereignis. Er ist der menschliche Sündenfall schlechthin, weil ein ganzes Volk sich vorwerfen lassen muss, mitgetan, im besten Fall weggesehen zu haben, was womöglich hätte verhindert können.

Es wird viele Veranstaltungen an diesem - zugegeben jungen - Gedenktag geben. Er wurde erst 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt. Es gibt zu diesem Anlass Lesungen, Preisverleihungen, Festakte. Das ist alles wichtig und richtig. Aber nur dort, wo Überlebende berichten, werden Menschen berührt sein. Diese Chance hat der Bundestag in diesem Jahr vertan.

Viel wichtiger werden an diesem Tag voraussichtlich ohnehin andere Nachrichten sein. Kanzlerin Angela Merkel gibt wenige Minuten nach der Gedenkstunde ein Statement zum Konjunkturprogramm der Bundesregierung ab. Dann werden die Debatten weitergehen, ob die Rezession mit zu viel oder zu wenig Geld bekämpft wird.

Natürlich muss an so einem Tag die Republik nicht stillstehen. Aber zumindest sollte erkennbar bleiben, dass die Deutschen des größten Verbrechens gedenken, das je im Namen eines Volkes verübt wurde.

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