Süddeutsche Zeitung

Hessen:"Das ist doch alles nicht zu erklären!"

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69 Drohschreiben, fast immer der gleiche Absender. Innenminister Beuth stellt sich in einer Sondersitzung des Innenausschusses den Vorwürfen zur "NSU 2.0"-Affäre. Die Ausschussmitglieder der Opposition bleiben unzufrieden.

Von Matthias Drobinski, Frankfurt

Peter Beuth, der hessische CDU-Innenminister, muss sich einiges anhören an diesem Dienstagmittag im Hessischen Landtag. Dort hat sich der Innenausschuss zur Sondersitzung und zur Diskussion der "NSU 2.0"-Affäre getroffen, die Tag für Tag weitere Kreise zieht. "Ihr Krisenmanagement ist unterirdisch", wirft Nancy Faeser, die Fraktionschefin der oppositionellen SPD, Beuth vor. Immer erst auf öffentlichen Druck hin werde der Innenminister aktiv, "das trägt nicht dazu bei, die Integrität der Polizei wiederherzustellen".

Der Linken-Abgeordnete Hermann Schaus schimpft: "Insgesamt kann man nur von einer katastrophalen Fehlleistung sprechen, für das ich keine Worte habe!" Sein FDP-Kollege Stefan Müller schüttelt den Kopf und sagt: "Das ist doch alles nicht zu erklären!"

Mehr als 50 Fragen haben die Oppositionsparteien SPD, Linke und FDP in dieser Ausschuss-Sondersitzung des Hessischen Landtags dem Innenminister übermittelt. Warum können die Urheber der Drohschreiben nicht ermittelt werden? Was ist los auf Hessens Polizeirevieren, wenn dort interne Daten abgerufen werden können, die später in den Schreiben mit dem Absender NSU 2.0 auftauchen? Wieso erfuhr der Innenminister erst jetzt, dass es vor den Schreiben an die Kabarettistin İdil Baydar und an die Linken-Fraktionschefin Janine Wissler Abfragen von zwei Wiesbadener Polizeicomputern gab?

Fast eine Stunde antwortet Beuth an diesem Mittag auf Vorwürfe und Fragen. Die Botschaft des arg in Bedrängnis geratenen Ministers: Wir tun alles, um die Affäre aufzuklären. "Wir werden den Kampf gegen den Rechtsextremismus entschlossen führen, sehr entschlossen führen", sagt er gleich zu Beginn.

Es gibt keine Entlastung für Beuth an diesem Tag

Bis zum Freitag seien insgesamt 69 Drohschreiben mit dem Absender NSU 2.0 versandt worden, berichtet er. Fast immer kamen sie von der gleichen Absenderadresse. Sie richteten sich an 27 Personen in acht Bundesländern. In drei Revieren seien über Polizeirechner Daten von den später bedrohten Frauen abgerufen worden. Beuth stellt noch einmal das Konzept vor, mit dem er die Drohmails abstellen und das Vertrauen in die Polizei wiederherstellen will: neue Passwörter, ein besserer Austausch der Behörden, ein Sonderermittler, eine Expertengruppe, die am Leitbild der Polizei arbeitet.

"Die Änderung muss in den Köpfen ankommen", sagt Beuth. Vor allem aber hat er den Frankfurter Leitenden Oberstaatsanwalt Albrecht Schreiber mitgebracht. Seit zwei Jahren arbeite man mit Hochdruck, betont der, man habe Durchsuchungen und Telekommunikationsüberwachungen erwirkt, 30 Zeugen befragt, Interpol eingeschaltet, Rechtshilfeersuchen im Ausland gestellt, besonders in den USA und Russland. Die Ermittlungen gestalteten sich schwierig, weil der oder die Täter "aus der Anonymität des Internets und des Darknets" operierten; man durchforste gerade enorme Datenmengen. Aber, betont Schreiber: "Wir sind noch nicht am Ende mit unseren Möglichkeiten."

Die Ausschussmitglieder von der Opposition bleiben unzufrieden, ihre Fragen bohrend. Wie konnte es sein, dass bei den beiden Beamten, unter deren Namen in den Wiesbadener Revieren Daten abgerufen wurden, es keine Hausdurchsuchungen gab, die Handys nicht ausgewertet wurden? Warum werden sie nur als Zeugen geführt, gibt es erst jetzt ein Disziplinarverfahren? Es gebe keinen hinreichenden Anfangsverdacht, antwortet Oberstaatsanwalt Schreiber. Und die Verzögerungen seien der Corona-Pandemie geschuldet.

Aber waren die Drohungen gegen die Kabarettistin İdil Baydar der Staatsanwaltschaft nicht schon im Oktober 2019 bekannt? "Da wusste man noch nicht einmal in China vom Coronavirus", ruft der FDP-Mann Müller. Es gibt keine Entlastung für Beuth an diesem Tag. Und da ist auch noch die Meldung: Es gibt neue Hassmails, unter anderem an die Grünen-Politikerinnen Claudia Roth und Katrin Göring-Eckardt, die Linken-Vorsitzende Katja Kipping, die Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli.

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SZ vom 22.07.2020
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