Süddeutsche Zeitung

Haftbedingungen in Guantánamo:"Sein Hungerstreik ist ein Schrei nach Menschlichkeit"

Lesezeit: 3 min

Zwangsernährt durch einen 110 Zentimeter langen Schlauch: Erstmals befasst sich ein US-Gericht mit den Haftbedingungen in Guantánamo. Der Anwalt eines Syrers erhebt schwere Vorwürfe gegen die US-Regierung.

Von Matthias Kolb, Washington

Zum ersten Mal seit Errichtung des umstrittenen US-Gefangenenlagers Guantánamo vor knapp 13 Jahren hat sich ein US-Bundesgericht mit den dortigen Haftbedingungen befasst. Vor dem Gericht in der Hauptstadt Washington begann an diesem Montag ein Prozess um die Zwangsernährung des Syrers Abu Wa'el Dhiab. "Sein Hungerstreik ist der einzige Weg, den er hat, um friedlich gegen seine Inhaftierung zu protestieren", sagte Dhiabs Anwalt Eric Lewis. "Sein Hungerstreik ist ein Schrei nach Menschlichkeit."

Lewis prangerte die Zwangsernährung von Dhiab und anderen Guantánamo-Insassen als "schmerzhaftes, entwürdigendes Verfahren" an. Die auf Folteropfer spezialisierte Medizinprofessorin Sondra Crosby von der Boston University sagte, Dhiab sei etwa 1300 Mal einer Zwangsernährung unterzogen worden. "Er hat erkennbar Schmerzen", sagte sie als Zeugin vor Gericht. Staatsanwalt Andrew Warden entgegnete, dass die Zwangsernährung "notwendig" gewesen sei, um den Tod des Insassen zu verhindern. Das medizinische Personal in Guantánamo handele auf "humanitäre und angemessene Weise".

Diese Einschätzung wurde von der Medizinerin Crosby angezweifelt. Sie vertrat in ihrer Aussage der Washington Post zufolge die Ansicht, dass das Personal in Guantánamo die Grenze zwischen ärztlicher Behandlung und Bestrafung überschritten habe. So habe ein Arzt im Juni 2013 angeordnet, dass Dhiab seine Socken und seine Boxershorts weggenommen werden sollten.

Zeugin vermutet Bestrafung durch Ärzte

"Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum ein Arzt einen solchen Auftrag erteilt. Es erscheint mir ganz klar eine Bestrafung gewesen zu sein", sagte Crosby. Zudem sei sie der Meinung, dass Dhiab medizinische Behandlung vorenthalten wurde - aus disziplinarischen Gründen.

Der 43-jährige Dhiab wird seit mehr als zehn Jahren ohne Anklage auf dem US-Militärstützpunkt auf Kuba festgehalten, obwohl die Behörden bereits im Jahr 2009 seine Freilassung für möglich erklärt hatten. Der New York Times zufolge war Uruguay bereit gewesen, Dhiab und fünf weitere Männer aufzunehmen, doch nun stockt dieser Plan, weil sich das politische Klima zwischen Washington und Montevideo verschlechtert hat.

In dem nach den 9/11-Anschlägen eingerichteten Lager sitzen noch immer 149 Männer ein. Im Februar 2013 hatte sich ein Drittel der Gefangenen geweigert, Nahrung zu sich zu nehmen. Seitdem veröffentlicht das US-Verteidigungsministerium keine Informationen mehr über Hungerstreiks in dem Gefangenenlager.

Der Prozess, der an diesem Dienstag fortgesetzt wird, hatte schon vor Beginn für Aufsehen gesorgt, weil die zuständige Bundesrichterin Gladys Kessler angeordnet hatte, dass Videos von der Zwangsernährung auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen. 16 Medienunternehmen haben Klage eingereicht, um die Videos einsehen zu dürfen. Vom Gericht freigegebene Videoaufnahmen zeigen, wie Soldaten Dhiab aus seiner Zelle holen, ihn fixieren und er durch die Nase zwangsernährt wird. Menschenrechtsorganisationen prangern diese Praxis seit Jahren an: Die Einführung des Schlauchs durch die Nase in die Speiseröhre verursacht starke Schmerzen und Erstickungsgefühle.

Laut Guardian präsentierte Dhiabs Anwalt Eric Lewis der Richterin diesen 110 cm langen Schlauch. Dhiab bezeichne die Vorrichtung, auf der er festgebunden werde, als "Folterstuhl". Seine Anwälte fordern, dass ihr Mandant bei der Nahrungsaufnahme in einem Rollstuhl sitzen darf und sein Körper nur an einer Stelle fixiert wird - und nicht an fünf.

Menschenrechtler: Auch heute findet noch Missbrauch in Guantánamo statt

Staatsanwalt Warden verteidigt das bisherige Prozedere und die Behandlung des Gefangenen mit der Sicherheit des Personals und dem Verhalten des Gefangenen: Dieser habe um sich geschlagen, die Wachen und Ärzte beschimpft und diese mit Urin und Fäkalien beworfen. Ein weiterer Zeuge, der Psychiater und ehemalige Brigadegeneral Stephen Xenakis, sagte hingegen aus, der Kläger sei mit seinen geschätzten 69 Kilogramm Gewicht nicht in der Lage, das Personal tätlich anzugreifen.

Xenakis sagte zudem, er sehe sich nicht in der Lage, eine Diagnose über den psychischen Zustand und die geistige Verfassung Dhiabs abzugeben. Allerdings habe er den Eindruck, dass dieser "überhaupt nicht gefährlich" sei. Der Syrer erklärt laut Guardian sein Verhalten mitunter damit, dass er von "ruchlosen Geistern" oder Dschinns beeinflusst werde.

Die Videosequenz, die am ersten Tag analysiert wurde, blieb den Prozessbeobachtern jedoch verborgen, weil sie hinter verschlossenen Türen gezeigt wurde. Ob und wann sie öffentlich gemacht wird, ist unklar. Cori Crider, eine Anwältin der Menschenrechtsorganisation Reprieve, sagte dem Online-Magazin The Intercept, wenn das Material publik würde, könnte die Öffentlichkeit sehen, dass im Lager in Guantánamo Misshandlungen nicht nur in der Vergangenheit stattgefunden hätten: "Auch jetzt passieren noch immer ziemlich schockierende Dinge."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2162360
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/mit Material von AFP
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.