Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Strähnchen-Schwarzmarkt

Lesezeit: 2 Min.

Warum Friseure ihre Kunden ins Hinterzimmer bitten.

Von Alexander Mühlauer

Dass der regelmäßige Friseurbesuch nicht gerade zu den Prioritäten von Boris Johnson zählt, wussten die Briten schon vor der Corona-Krise. Seit Langem kultiviert der Premierminister einen blonden Wildwuchs, der manche Spötter an einen Strohhaufen oder gar einen Wischmopp erinnert. Nun, nach elf Wochen Lockdown, ist auch Johnsons Haar ziemlich lang geworden. Den Premier mag das nicht weiter kümmern, doch viele seiner Landsleute empfinden die von der Regierung auferlegte Zwangsverwilderung zunehmend als Last: Sie würden gerne wieder zum Friseur gehen. Weil die Regierung die Dienstleistung des Haareschneidens aber noch immer verbietet, müssen sie damit warten. Bis zum 4. Juli sollen Friseursalons geschlossen bleiben.

Kein Wunder, dass die Geduld vieler Briten erschöpft ist. Der Wunsch, sich endlich mal wieder die Haare schneiden oder färben zu lassen, ist so groß, dass im Königreich ein Schwarzmarkt entstanden ist, auf dem Friseure ihr Handwerk anbieten. Wer etwa im Internet danach sucht, stößt auf allerlei Kleinanzeigen. Es gibt Friseure, die einen zu Hause besuchen, vorzugsweise im Garten. Andere teilen per SMS einen Treffpunkt mit, der sich dann als improvisierter Haarschneideplatz in einer Wohnung entpuppt. Und dann gibt es noch Friseure, die ihre Läden als Baustelle getarnt haben: Die Schaufenster sind mit blickdichter Folie abgeklebt, dahinter stehen eine Leiter und ein Farbeimer, die den Anschein erwecken sollen, hier werde renoviert. Gewaschen und geschnitten wird im Hinterzimmer. Wer das macht, riskiert eine Geldstrafe von 60 bis knapp 1000 Pfund.

Die Times hat bereits ein "neues Zeitalter der Prohibition" ausgerufen und vergleicht die "klandestine Industrie von Friseuren" mit dem Geschäftsgebaren von Spirituosen-Schwarzhändlern im Amerika der 1920er-Jahre. Damals war die Herstellung und der Verkauf von Alkohol verboten, es gab aber illegale Kneipen, in denen der Whiskey trotzdem floss. Derlei Geschichten brauchen die Interessensvertreter des Friseurhandwerks gar nicht erst erzählen, wenn sie ihre Anliegen in Westminster vorbringen. Glaubt man den Lobbyisten, ist der Regierung das alles sehr wohl bewusst. An Johnsons Linie soll sich dennoch nichts ändern. Die Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus sei noch zu groß, heißt es in Downing Street. Von Mitte Juni an dürfen Friseure immerhin wieder Shampoos und Stylingprodukte verkaufen. Haarschnitte sollen aber erst wieder in gut vier Wochen erlaubt sein.

Johnsons Haircut-Politik beschäftigt derweil auch das britische Unterhaus. So wollte die Tory-Abgeordnete Selaine Saxby in der vergangenen Woche wissen, wann das Parlament über die weiteren Pläne der Regierung informiert werde. Der Leader of the House, Jacob Rees-Mogg, erinnerte sich daraufhin an einen Song aus seiner Kindheit: "Long Haired Lover From Liverpool". Er selbst habe nie danach gestrebt, so wie der langhaarige Liebhaber aus Liverpool auszusehen, versicherte Rees-Mogg, aber er fürchte, dass es in diese Richtung gehen könnte. Er habe jedenfalls noch nie längere Haare gehabt als jetzt, sagte der Johnson-Vertraute. Auch er hofft, dass vielen Briten möglichst bald "eine Last von den Schultern fallen möge".

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SZ vom 09.06.2020
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