Süddeutsche Zeitung

Geschichte:"Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen"

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Vor hundert Jahren setzten Arbeiter den Acht-Stunden-Tag in Deutschland durch - er galt von Montag bis Samstag. Seither hat sich viel getan. Eines bleibt allerdings konstant.

Von Robert Probst

Im Grunde wusste schon Otto von Bismarck, was der Europäische Gerichtshof jetzt entschieden hat: Jeder Arbeitnehmer hat ein Grundrecht auf die Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Am 15. Januar 1885 jedenfalls sagt der Reichskanzler im Reichstag: "Wer empfindet nicht das Bedürfnis zu helfen, wenn er den Arbeiter gegen den Schluss des Arbeitstages müde und ruhebedürftig nach Hause kommen sieht?" Um dann allerdings fortzufahren, es dürfe auf keinen Fall passieren, dass das Kaiserreich und seine Exportindustrie "konkurrenzunfähig" würden "mit dem Auslande". Darum werde sich seine Regierung weiterhin strenge Zurückhaltung auferlegen bei der Begrenzung der Arbeitszeit. Der Weg zur 35-Stunden-Woche ist damals noch weit und beschwerlich.

Jahrhundertelang spielte das Thema Arbeitszeit keine Rolle, die Arbeit von Bauern und Handwerkern ist bestimmt vom Tageslicht und den Jahreszeiten. Die Einrichtung von Manufakturen führt zu Beginn der Neuzeit zu ersten Schritten der Arbeitsteilung. Vom frühen 19. Jahrhundert an bestimmt dann mehr und mehr die Maschine die Arbeitszeit. Karl Marx beschreibt die Veränderung der Produktionsweise im "Kommunistischen Manifest" 1848 so: "Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstands traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen." Deren Soldaten, das sind die Proletarier, wie Marx sie nennen würde. Die Tätigkeiten sind vergleichsweise einfach - auch Frauen und Kinder werden gern genommen -, und die Maschinen sollen möglichst rentabel, also mit wenig Unterbrechungen laufen. Die geringen Anforderungen und das Bevölkerungswachstum führen letztlich zu einem Überangebot an Arbeitskräften - niedrige Löhne, immer längere Zeiten in der Fabrik, die Abschaffung von Sonn- und Feiertagsruhe und soziale Verelendung sind die logische Folge.

Vom Jahr 1800 ansteigend - als im Durchschnitt zwischen zehn und zwölf Stunden gearbeitet wird - erreicht die Belastung 1830 bis 1860 mit 14 bis 16 Stunden ihren Höhepunkt. Keinerlei Arbeitnehmervertretungen gibt es damals, erste Ansätze werden von Königen und Kleinfürsten sehr schnell wieder kassiert. Skandalöse Auswüchse der Kinderarbeit werden geduldet mit dem Hinweis, der Staat wolle hier nicht eingreifen, "da dadurch die natürliche Freiheit des Menschen, über seine Zeit und Kräfte auf die ihm vorteilhaftest erscheinende Art zu disponieren, beeinträchtigt würde", wie Preußens Innenminister in den 1820er-Jahren dekretierte.

Der Gegensatz von Kapital und Arbeit führt allerdings nicht zu einer geschlossen handelnden "Arbeiterklasse", wie es sich Marx vorstellt. Die Arbeiterschaft bleibt vielfach gespalten - und doch beginnt sie, sich nach und nach zu organisieren. Der Acht-Stunden-Tag wird zum Traum von Sozialisten und Sozialdemokraten im Kaiserreich. "Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen, acht Stunden Mensch sein", lautet eine der Losungen. Aber erst die Revolution von 1918 bringt den meisten Arbeitern den langersehnten Durchbruch. Am 1. Januar 1919 tritt der Acht-Stunden-maximal-Arbeitstag in Kraft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt der Aufschwung, zumindest in Westdeutschland. Allerdings führt das Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren wieder zu steigenden Arbeitszeiten. 1950 ist ein Industriearbeiter 48 Stunden in der Woche tätig, verteilt auf sechs Tage, klagt die IG Metall. Mit zunehmendem Wohlstand rücken jedoch gute Arbeits- und Lebensbedingungen in den Mittelpunkt. Jetzt ist die Familie dran: "Samstags gehört Vati mir!" Mit diesem Slogan starten 1955 die DGB-Gewerkschaften ihre Arbeitszeitkampagne und fordern die Fünf-Tage-Woche mit 40 Arbeitsstunden - bei vollem Lohnausgleich. Bis Mitte der 1970er-Jahre wird das fast überall Wirklichkeit.

Als Antwort auf die zunehmende Massenarbeitslosigkeit erklärt der IG-Metall-Vorstand 1982 dann die 35-Stunden-Woche zum vorrangigen Ziel. "Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen" heißt jetzt der Slogan. Nicht überall wird das Realität.

2018 beträgt die durchschnittliche vereinbarte Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten in Deutschland 38 Stunden, die der Teilzeitbeschäftigten 16,7 Stunden, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelt. Die tatsächliche Arbeitszeit ist oft mehr, auch weil diverse Betriebe keine Tarifbindung aufweisen. Laut einer Erhebung von Eurostat aus dem Jahr 2018 arbeiten die Deutschen 40,3 Stunden in der Woche, Spitzenreiter sind Briten (42,1), Zyprer (41,6) und Österreicher (41,3). Am wenigsten arbeiten demnach Norweger (38,5) und Dänen (37,8).

Und das unterscheidet sich dann doch von der Bismarck-Zeit.

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Quelle:
SZ vom 15.05.2019
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