Süddeutsche Zeitung

Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau:Klassenfahrt in die dunkelste Vergangenheit

Lesezeit: 4 min

Historiker Christian Kuchler hat untersucht, was Schüler bei ihrer Reise in die KZ-Gedenkstätte lernen. Am stärksten beeindrucken die Jugendlichen die Hinterlassenschaften der Ermordeten - und das pure räumliche Ausmaß des Geländes.

Rezension von Barbara Distel

Die Corona-Pandemie hat seit Frühjahr 2020 auch die Orte der Erinnerung an die nationalsozialistische Mordpolitik stillgelegt. Wann und mit welchen Impulsen die Arbeit dort wieder aufgenommen und weiterentwickelt werden kann, ist derzeit nicht absehbar.

Die Studie des Historikers und Geschichtsdidaktikers Christian Kuchler zu Klassenfahrten deutscher Schulklassen in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau analysiert aus diesem aktuellen Blickwinkel die bis zum Jahr 2019 organisierten Exkursionen und beleuchtet gleichzeitig Zukunftsperspektiven für diese Methode der Geschichtsvermittlung.

Grundlage für die Untersuchung und Bewertung der Schülerfahrten nach Auschwitz sind schriftliche Beurteilungen aus den Jahren 1980 bis 2019, in denen Schüler ihre Erwartungen vor dem Besuch, ihre Eindrücke während des Aufenthalts und ihre Gedanken nach der Heimkehr festgehalten haben.

Ergänzt wird die Analyse durch eine Befragung von Schülern zehn bis 22 Monate nach dem Besuch. Im Zentrum steht die Fragestellung, ob sich mithilfe von Schülerexkursionen nach Auschwitz Geschichtsbewusstsein bilden lässt und ob sie dazu beitragen können, Theodor Adornos Forderung, "dass Auschwitz sich nicht wiederholt", zu verwirklichen.

Welche Erwartungen haben die Schüler?

Nach einem kurzen historischen Abriss zum größten nationalsozialistischen Todeslager folgt die Geschichte der Entstehung und Entwicklung der Gedenkstätte seit dem Jahr 1947. Über lange Jahre hinweg war die Arbeit dort getragen von den polnischen KZ-Überlebenden unter den gesellschaftspolitischen Bedingungen des kommunistischen Nachkriegs-Polens bis zum Systemwechsel des Jahres 1989 und darüber hinaus. Es gab über Jahrzehnte hinweg wenige Verbindungen zwischen der polnischen Erinnerungspolitik und den Diskursen über nationalsozialistische Verbrechen in Deutschland, den anderen europäischen Ländern und Israel und den USA.

Die ersten Gruppenbesuche Jugendlicher aus der Bundesrepublik Deutschland in Auschwitz wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren von der sozialistischen Jugendorganisation "Die Falken" sowie von kirchlichen Organisationen wie der katholischen "Pax Christi"-Bewegung und der protestantischen "Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste" organisiert.

Die nach langen Jahren politischer Auseinandersetzungen seit 1986 in gemeinsamer Trägerschaft der Stadt Oświęcim und der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste bestehende Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz kann inzwischen auf 35 Jahre Geschichtsvermittlung und Begegnungsarbeit in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte und KZ-Überlebenden zurückblicken.

Die Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen, die zumeist für ein Jahr in Auschwitz oder auch einer anderen KZ-Gedenkstätte in Polen arbeiten, verkörpern wohl am überzeugendsten die Hoffnung des bis 1996 amtierenden Präsidenten des Internationalen Auschwitz-Komitees, Maurice Goldstein, dass Auschwitz den Menschen verändert.

Als beispielhaftes Zeugnis für den durch eine längere Begegnung mit Auschwitz erzeugten, vielschichtigen Lernprozess kann der Spielfilm "Am Ende kommen die Touristen" des ehemaligen Freiwilligen Robert Thalheim gelten. Er vermittelt auf eindringliche, sehr subtile Weise die schwierige Situation der Stadt Oświęcim in den 1990er-Jahren, in der einerseits polnische Jugendliche versuchen, im Schatten des ehemaligen Vernichtungslagers ein normales Leben zu führen.

Gleichzeitig ist jedoch die Geschichte in der Gedenkstätte mit ihrem Besucherandrang allgegenwärtig. Die Begegnung des jugendlichen Protagonisten mit einem alten polnischen Überlebenden verdeutlicht die Ambivalenz, die durch das Zusammentreffen entsteht, und verweist auf die Grenzen gegenseitigen Verstehens.

Zwei Millionen Besucher kommen jedes Jahr

Seit Beginn der 1990er-Jahre entwickelte sich die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zum weltweit bedeutsamsten Erinnerungsort an die NS-Mordpolitik und damit auch zu einem Ziel des internationalen Massentourismus. Die jährlichen Besucherzahlen stiegen in diesem Zeitraum kontinuierlich an, bis sie 2018/2019 die Grenze von zwei Millionen Interessierten überschritten. Die Gedenkstätte beschränkte den zuvor unbegrenzten Zugang und genehmigte nur noch angemeldete, auf der Grundlage polnischer Geschichtspolitik geführte Rundgänge durch eigene Mitarbeiter.

Der umfangreichste Quellenbestand an schriftlichen Reaktionen deutscher Schüler auf die Exkursion nach Auschwitz lag dem Autor mit Aufzeichnungen aus Nordrhein-Westfalen für die Jahre 2010 bis 2019 vor. Letztendlich blieben aber über die Jahre hinweg die stärksten und am häufigsten benannten Eindrücke der Jugendlichen der Ausstellungsbereich im Stammlager Auschwitz I mit den Hinterlassenschaften der Ermordeten und das räumliche Ausmaß des Geländes von Birkenau (Auschwitz II).

Die Begegnung mit einem Überlebenden, die im untersuchten Zeitraum noch für viele Gruppen in ihren Übernachtungsquartieren angeboten werden konnte, wird als wichtige emotionale Ergänzung des kognitiven Lernprozesses eingeordnet. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten und Defizite wie mangelhaftes Vorwissen von Lehrern und Schülern, Einschränkungen durch die von der Gedenkstätte vorgegebene Vermittlung, fehlende Kontakte zur lokalen Bevölkerung, Fokussierung auf die Opfer und damit Ausgrenzung der Auseinandersetzung mit den Tätern oder fehlende Wahrnehmung der Erinnerungsnarrative anderer Nationen fällt die Bewertung der Exkursionen sowohl von Seiten der Schüler wie des Autors positiv aus.

Allerdings lassen sich zu hoch gesteckte Ziele nicht erfüllen, etwa dass mit einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz deutsche Jugendliche dauerhaft für Demokratie und Pluralismus zu gewinnen wären und sie gegenüber nationalsozialistischem Gedankengut, Antisemitismus und Rassismus immunisiert werden könnten. Dieser Befund deckt sich mit Erfahrungen, die an KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik immer wieder gemacht wurden, wenn von Seiten der Politik überhöhte Erwartungen an die Wirkung von Exkursionen in Gedenkstätten gerichtet wurden.

Können Hologramme weiterhelfen?

Christian Kuchler bedauert die Zurückhaltung an vielen Gedenkstätten, neue Medien einzubeziehen, wie etwa digital generierte Hologramme, die in den letzten Jahren mit Überlebenden aufgezeichnet wurden und die den Dialog mit nachfolgenden Generationen ersetzen sollen. Die Besorgnis, dass der Besuch des historischen Ortes durch "virtual reality" obsolet werden könnte, spielt dabei sicherlich eine Rolle, ebenso wie die negativen Erfahrungen mit kommerziellen Angeboten neuer Medien zur Auseinandersetzung mit der Shoah.

Vorgestellt wird als positives Beispiel das Video "Inside Auschwitz", das einen filmischen Rundgang über die Gedenkstätte mit Kurzberichten von drei Frauen verbindet, die Auschwitz überlebt haben. Allerdings sollte nach den Erfahrungen des Autors das Video als Ergänzung, nicht als Ersatz des Besuchs der Gedenkstätte eingesetzt werden.

Die abschließende Einschätzung des Autors zu den Möglichkeiten zukünftiger deutscher Schülerexkursionen nach Auschwitz ist pessimistisch. Trotzdem schließt die Studie mit Vorschlägen, wie zukünftige Besuche substanziell verbessert werden könnten durch Angebote zur Eigenerkundung, bessere Vorbereitung, stärkere Beachtung emotionaler Erfahrungen, Einbeziehung internationaler Geschichtsnarrative und Vertiefung der Auseinandersetzung mit der Tätergeschichte.

Der Autor plädiert dafür, dass Gedenkstättenbesuche als integraler Bestandteil des Geschichtsunterrichts gerade angesichts "wachsenden Antisemitismus und Radikalisierung und Nationalisierung europäischer Gesellschaften" dauerhaft zu etablieren seien.

Christian Kuchler hat mit seiner Studie die Debatte zur zukünftigen pädagogischen Vermittlungsarbeit an KZ-Gedenkstätten substanziell bereichert. Es ist zu hoffen, dass sie im Bereich der Geschichtsvermittlung auf ein breites Echo stößt.

Barbara Distel leitete die KZ-Gedenkstätte Dachau von 1975 bis 2008.

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Quelle:
SZ vom 03.05.2021
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