Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Marschieren im Vakuum

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Die Mehrheit der Bürger traut ihrem Präsidenten eine gerechte Reform des Rentensystems nicht zu. So stehen sich Demonstranten und Regierung zu Beginn der Streiktage unerbittlich gegenüber.

Von Leo Klimm und Nadia Pantel, Paris

Es sind zwei mächtige Bilder an diesem Streik-Donnerstag in Paris: Zum einen die leere Stadt am Morgen. Als 1995 die Franzosen das letzte Mal gegen eine Reform ihres Rentensystems rebellierten und Metro- und Bahnfahrer ihre Arbeit niederlegten, gehörten zu den beeindruckendsten Bildern die 500 Kilometer Stau, die sich rund um Paris bildeten. 1995 bedeutete Blockade Stillstand. Heute bedeutet Blockade erst mal einfach nur Homeoffice. Am Morgen des großangekündigten Generalstreiks verzweifelte Frankreichs Hauptstadt nicht am Verkehrskollaps, für Autofahrer war es im Gegenteil so entspannt wie selten. Die Straßenverkehrsdirektion maß für den Großraum Paris zwischen 8 und 8.30 Uhr am Morgen 90 Kilometer Stau auf den Straßen, normalerweise sind es um diese Uhrzeit 280 Kilometer.

Ganz anders die Stimmung am Nachmittag im Osten zwischen Gare de l'Est und Place de la République. Auf der Großdemo, zu der unter anderem die Gewerkschaften aufgerufen hatten, konnte man sich kaum bewegen, so dicht standen die Menschen. Der Polizei zufolge demonstrierten in der Hauptstadt 65 000 Menschen, in ganz Frankreich 806 000. Der Gewerkschaftsdachverband CGT ging von 1,5 Millionen Demonstranten landesweit und 250 000 in Paris aus.

In dem Kräftemessen, das an diesem ersten Streiktag beginnt, stehen sich Demonstranten und Regierung in einer Art Vakuum gegenüber. Erst Mitte nächster Woche will Premier Édouard Philippe genaue Eckdaten der Rentenreform verkünden. Von welchem Alter an soll sie greifen? Schafft sie alle Sonderregelungen ab? Noch ist dies offen. In Umfragen finden die Meinungsforscher dasselbe Ergebnis: Die Mehrheit der Franzosen will die Reform des komplizierten Rentensystems. Und die Mehrheit der Franzosen traut Präsident Emmanuel Macron nicht zu, diese Reform so zu gestalten, dass sie Gerechtigkeit schafft. Aus dem Élysée-Palast heißt es, der macron beobachte "ruhig, entschlossen und aufmerksam" die Entwicklung. Bleiben die Bürger solidarisch mit den Streikenden? Bleiben die Demonstrationen eher friedlich?

Die Rentenreform gilt als Macrons ehrgeizigstes Projekt. Der Präsident will einen Systemwechsel herbeiführen, damit für alle Arbeitnehmer dieselben Regeln gelten. Durch den massiven Widerstand gegen die Umstellung auf Macrons "Universalsystem" gerät er ein Jahr nach den Gelbwesten-Protesten erneut in die Defensive. Für ihn steht beim Kräftemessen mit den Demonstranten die Identität als Reformer auf dem Spiel: Die meisten seiner Anhänger sagen in Umfragen, ihn für die Bereitschaft zu unpopulären Reformen zu unterstützen. Doch der Widerstand ist breit: Von Linken bis zur rechtsextremen Marine Le Pen befürwortet ein Großteil der Opposition die Streiks. Und am ersten Tag ist das öffentliche Leben weiten Teils lahmgelegt. Der Arbeitskampf, der andauern soll, trifft besonders Verkehrsmittel und Schulen. Bei der Bahn SNCF fuhren weniger als zehn Prozent der Züge. In Paris und anderen Städten kam der öffentliche Nahverkehr fast zum Erliegen, Hunderte Flüge fielen aus. Sieben der acht Erdölraffinerien wurden bestreikt, fast die Hälfte der Lehrer trat in den Ausstand.

"Wir sind nicht reich genug, um von Macrons Politik zu profitieren", sagt ein Demonstrant

Éric Fileyssant gehört zu den streikenden Beamten. Er arbeitet in der Bibliothek des Naturkundemuseums, doch haben seine Kollegen und er die Lesesäle zugesperrt und sind auf der Straße. Fileyssant steht am Boulevard Magenta und zuckt zusammen, wenn um die Ecke auf der Place de la République Tränengasgranaten der Polizei explodieren. Um ihn herum johlt die Menge, gegenüber zerstören ein paar Leute ein Bushäuschen. Warum Fileyssant hier ist? "In den 30er- Jahren kämpften meine Großeltern für das Sozialsystem, das wir heute haben. Doch nun geht es nur noch bergab", sagt er. Seit Macron regiert, spürten seine Eltern, dass ihnen von ihrer Rente weniger zum Leben bleibe, sagt Fileyssant. Er ist weniger wegen der Rentenreform hier, sondern weil er das Gefühl hat, "dass es so nicht weitergeht". Ähnlich klingen Marie, David und Anatol. Sie studieren Informatik an der Sorbonne, sagen ihre Nachnamen nicht, "man weiß ja nie, in welchem Kontext man zitiert wird". Sie sind hier, weil sie "den Sozialstaat retten wollen". "Wir sind nicht reich genug, um von Macrons Politik zu profitieren", sagt David. "Ich habe nicht genau verstanden, worum es bei der Rentenreform geht, aber es gibt so viele andere Themen, bei denen Macron nicht genug tut. Gegen den Klimawandel, für die Gesundheitsversorgung, für Studenten". Die drei gehen auf die Straße, seit sich in Lyon vor einigen Wochen ein Student angezündet hat, um auf seine prekäre Lage aufmerksam zu machen. "Das hat mich total wachgerüttelt", sagt Marie.

Hinter ihnen marschieren Schüler, dazwischen Kindergärtnerinnen mit rosa Westen und umgehängten Schnullern. Viele Demonstranten tragen gelbe Warnwesten. Wie Brigitte Desprez, 59, bald in Rente. "Mir geht es gut, aber das System ist kaputt", sagt Desprez. Sie demonstrierte früher nie, wählte meist konservativ. Die Gelbwesten hätten ihr "die Augen geöffnet". Desprez glaubt, die meisten Politiker seien korrupt, die meisten Journalisten lögen, und Macron werde von Konzernen gesteuert. Ein Jahr stand sie immer wieder, wie viele Gelbwesten, am Kreisverkehr. Nun ist sie froh, dass "der Kampf" wieder Fahrt aufnimmt. Geht sie morgen wieder auf die Straße? "Natürlich, so lange, wie es eben dauert." Um die Rentenreform geht es ihr nur am Rande. Macron soll zurücktreten.

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SZ vom 06.12.2019
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