Süddeutsche Zeitung

Generalstreik in Frankreich:"Blöd wäre nur, wenn es länger dauert"

Lesezeit: 3 min

Von Nadia Pantel, Paris

So streikt also die neue Welt: Sie bleibt einfach zu Hause. Als vor gut 30 Jahren die Franzosen das letzte Mal gegen eine Reform ihres Rentensystems rebellierten und Metro- und Bahnfahrer ihre Arbeit niederlegten, gehörten zu den beeindruckendsten Bildern die 500 Kilometer Stau, die sich rund um Paris gebildet hatten. 1995 bedeutete Blockade noch Stillstand. Heute bedeutet Blockade erstmal einfach nur Homeoffice. Am Morgen des großangekündigten Generalstreiks verzweifelte Frankreichs Hauptstadt nicht am Verkehrskollaps, die Stimmung in Paris war im Gegenteil so entspannt wie selten. Die Straßenverkehrsdirektion maß für den Großraum Paris zwischen 8 und 8.30 Uhr am Morgen 90 Kilometer Stau auf den Straßen, normalerweise sind es um diese Uhrzeit 280 Kilometer.

In dem Kräftemessen, das an diesem ersten Streiktag seinen Anfang nimmt, stehen sich Demonstranten und Regierung in einer Art Vakuum gegenüber. Erst Mitte nächster Woche will Premierminister Édouard Philippe die genauen Eckdaten der Rentenreform bekannt geben. Von welcher Alterstufe an soll sie greifen? Werden wirklich alle Sonderregelungen abgeschafft? Noch ist all dies offen. Der Streik ist präventiv, die Verteidigungshaltung der Regierung ebenso. In allen Umfragen kommen die Meinungsforschungsinstitute zum selben Ergebnis: Die Mehrheit der Franzosen will eine Reform ihres komplizierten Rentensystems. Und die Mehrheit der Franzosen traut ihrem Präsidenten Emmanuel Macron nicht zu, diese Reform so durchzuführen, dass sie Gerechtigkeit schafft.

Der Sender BFM will aus dem Élysée-Palast erfahren haben, dass der Präsident "ruhig, entschlossen und aufmerksam" die Entwicklung der Situation beobachte. Er respektiere das Recht zu Streiken, derjenigen Franzosen, "die auf pazifistische Art und Weise ausdrücken, dass sie gegen das Projekt" seien. Sprich: Der Staat verharrt in Wartestellung und wird ein paar Tage lang die Temperatur des Landes messen. Bleibt die Bevölkerung solidarisch mit den Streikenden? Bleiben die Demonstrationen friedlich?

Auf den Busspuren der Boulevards, wo sich sonst Fahrradfahrer und Öffentlicher Nahverkehr laut schimpfend in die Quere kommen, fuhren die Menschen Skateboard. Und selbst in den zwei Metrolinien, die nicht am Streik beteiligt waren, bekam man ohne Probleme einen Sitzplatz. Paris ist an diesem Tag von Menschen mit analogen Bedürfnissen geprägt. Von Hundehaltern, die halt keine andere Wahl haben, als Gassi zu gehen. Von Touristen, die den Eiffelturm lieber doch in echt als nur auf Google Maps sehen wollen, allerdings nicht rauffahren können, weil das auch das Wahrzeichen bestreikt wird. Von Rentnern, die zum Kiosk gehen, um ein Magazin zu kaufen (Tageszeitung? Heute? Natürlich nicht).

Noch betrifft der Stillstand nicht die Versorgung, doch die Streikbeteiligung im öffentlichen Dienst ist hoch

Wie also legt man ein Land lahm, in einer Zeit, in der niemand mehr vor die Tür zu müssen scheint? Die Metro-Station Champs-Élysées-Clémenceau um die Mittagszeit. Überirdisch zeigt ein Familienvater seinen Töchtern die gepanzerten Wasserwerfer der Polizei, die hier darauf warten, dass die Großdemonstrationen am Nachmittag eskalieren. 180 000 Demonstranten sollen landesweit schon vor dem offiziellen Beginn der Kundgebungen auf den Straßen gewesen sein.

Unterirdisch fährt die Metrolinie eins stoisch im 5-Minuten-Takt. Wenn sie in neben dem Bahnsteig hält, versteht man warum: Der Zug funktioniert vollautomatisch. Wo normalerweise der Zugführer in seinem Häuschen sitzt, endet der Zug in einer Glasfront, freie Sicht in den Tunnel. Angeblich gibt es in Indonesien ein Sprichwort, das besagt, dass die Orang-Utans nur deshalb nicht sprechen, weil sie sonst arbeiten müssten. So gesehen ist die Künstliche Intelligenz eine Stufe unter der Affen-Intelligenz angesiedelt. Für Roboter gibt es keine Existenz jenseits der Arbeit. Dem Affen traut man zu, sich zu weigern, die Maschine kommt nicht einmal auf die Idee.

In der fahrerlosen Metro spricht niemand Französisch. Es ist kein Zufall, dass gerade die Linie eins so konstruiert wurde, dass der Störfaktor Mensch keine Rolle mehr spielt. 40 Millionen Touristen besuchen Paris jedes Jahr, ein Menschenstrom, der nicht stocken darf, und der fast alles was er sucht, entlang der Linie eins findet: Tuilerien, Louvre, Champs-Élysées, Rathaus, Grand Palais, Place de la Concorde, die Seine. Nur was, wenn all die Dinge knapp werden, die Touristen gern konsumieren, Törtchen, Nippes, Kaffee?

Noch betrifft der Stillstand nicht die Versorgung, doch die Streikbeteiligung im öffentlichen Dienst ist hoch. In Paris blieben die Bibliotheken geschlossen, 46 Prozent der Lehrer und Erzieher kamen nicht zur Arbeit, die Züge sollen auch am Freitag noch still stehen.

Der Gare Montparnasse um kurz nach zehn am Vormittag. Ein menschenleerer Bahnhof und zwei Frauen, die zu dieser Uhrzeit eigentlich Pappbecher-Kaffee im Akkord verkaufen, nun aber einfach von ihrem Tresen aus in die Gegend starren. Nervt sie der Streik? "Ach nein, da hat ja jeder das Recht zu. Blöd wäre nur, wenn es länger dauert." Aber es wird doch länger dauern, oder? "Natürlich" - beide lachen. Dieser erste Streiktag wirkt noch wie ein Spiel. Wie ein Massenexperiment, das irgendwie auch zum Serienschauen auf dem Sofa einlädt, weil man ja ohnehin nicht ins Büro kann. Schmerzhaft wird so ein Streik, wenn er dauert. Wenn er teuer wird.

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