Süddeutsche Zeitung

Flug PS752:Spekulationen und Manipulationen

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Präsident Selenskij ermahnt die Ukrainer, keine Verschwörungstheorien zu verbreiten. Doch bislang erklärt kein Szenario den Absturz.

Von Florian Hassel, Warschau

Die Ukraine will nach dem Absturz von Flug PS752 der Fluggesellschaft Ukraine International Airlines (UIA) in Teheran vier mögliche Ursachen des Absturzes einschließlich möglicher Raketenangriffe untersuchen. Um 3.30 Uhr in der Nacht zum Donnerstag landete in Teheran ein Militärflugzeug mit 45 Spezialisten zwölf ukrainischer Behörden und der UIA. Geführt wird die Untersuchung indes von der iranischen zivilen Luftfahrtbehörde (CAOI).

Deren Chef Ali Abedzadeh zufolge habe Iran bereits am Mittwoch auch Schweden, Kanada und die USA eingeladen, Vertreter für eine Untersuchungskommission zu benennen. Ein solches Vorgehen entspricht Anhang 13 zur Luftfahrtkonvention von Chicago von 1944: Danach leitet die zuständige Behörde des Landes, in dem sich das Unglück ereignet, die Ermittlung. Auch das Land, in dem das abgestürzte Flugzeug registriert war, das Herstellerland und alle Länder mit toten Staatsbürgern unter den Opfern werden zu einer solchen Untersuchung eingeladen, die bis zu einem Jahr dauert. Die UN-Luftfahrtbehörde ICAO bestätigte, mit allen betroffenen Staaten im Kontakt zu sein.

Üblich ist, dass die Flugschreiber zur Auswertung an den Flugzeughersteller übergeben werden - in diesem Fall an Boeing im US-Bundesstaat Seattle. Dies aber schloss CAOI-Chef Ali Abedzadeh aus. "Wir werden die Black Box nicht dem Hersteller und den Amerikanern übergeben." Tatsächlich handelt es sich um den Flugschreiber der Flugdaten und den Rekorder aller Unterhaltungen und Funksprüche im Cockpit. Abedzadeh zufolge ist noch nicht klar, welches Land die Geräte analysieren werde. Eine Black Box soll teilweise beschädigt sein.

Die Analyse spreche für eine technische Ursache und gegen einen Anschlag

Kanadas und Irans Außenminister telefonierten über das weitere Vorgehen. Kanada werde "Teil der Untersuchung sein, nicht nur weil wir die Expertise haben, sondern weil wir einen so bedeutenden Verlust an Leben unserer Staatsbürger erlitten haben", sagte Ministerpräsident Justin Trudeau. Dem kanadischen Regierungschef zufolge waren unter den 167 toten Passagieren 63 kanadische Staatsbürger. 71 weitere Passagiere hätten mit Umstiegen in Kiew ebenfalls nach Kanada fliegen wollen. Zur iranischen Diaspora in Kanada zählen mehr als 200 000 Menschen.

In Kiew rief Präsident Wolodimir Selenskij am Donnerstag Staatstrauer aus. Im Fernsehen sagte Selenskij, er habe "die besten Experten unseres Landes" nach Teheran geschickt: Experten der Flugbehörden und von UIA, ebenso wie Diplomaten, Polizisten und Mitarbeiter von Sicherheitsrat, Militär und Geheimdienst. "Wir erwarten, dass sie alle in die Arbeit der Untersuchungskommission aufgenommen werden, insbesondere in die Entzifferung der Aufzeichnungen der Black Boxes", sagte Selenskij. Der Präsident forderte "alle auf, sich von Manipulationen, Spekulationen, schnellen kategorischen Einschätzungen und nicht geprüften Versionen fernzuhalten. Dies ist kein Thema für Likes in sozialen Medien, Sensationen und Verschwörungstheorien."

Anders klang Alexej Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates. Danilow sagte dem Infodienst censor.net, neben einer Triebwerksexplosion werde auch ein Zusammenstoß mit einer Drohne, ein Terroranschlag durch eine Bombe und ein möglicher Abschuss des Flugzeuges mit einer russischen Tor-Rakete untersucht. "Unsere Kommission stimmt mit den iranischen Behörden die Frage des Zugangs zum Unglücksort ab und ist entschlossen, eine Suche nach Fragmenten des russischen Raketenkomplexes Tor durchzuführen - entsprechend den Daten, die im Internet veröffentlicht wurden", sagte Danilow.

Tatsächlich hat Russland Iran ab November 2006 insgesamt 29 jeweils mit vier Raketen bestückte Tor-M1-Boden-Luft-Raketensysteme verkauft. Doch die von Danilow angesprochenen "Daten" sind bisher nur zwei in sozialen Medien hochgeladene Fotos von Tor-Raketenresten an unbekannten Orten. Es sei kaum möglich, den tatsächlichen Ort zu überprüfen, kommentierte Eliot Higgins von der englischen Gruppe Bellingcat, die durch ihre wegweisende Untersuchung des Abschusses der Passagiermaschine MH17 durch das russische Militär 2014 bekannt geworden war. Fünf westliche Sicherheitsbeamte sagten der Nachrichtenagentur Reuters, die erste Analyse spreche für ein Unglück mit technischer Ursache.

Indes reicht ein bisher von Teheran angeführter Triebwerksbrand alleine nicht als Erklärung aus: Die Maschine vom Typ Boeing 737-800 ist auch mit nur einem ihrer beiden Triebwerke flug- und landefähig. Zwei Minuten nach dem Start fiel der den Standort des Flugzeuges meldende Transponder aus, Handyaufnahmen der angeblichen Unglücksmaschine zeigen zunächst eine brennendes Flugzeug, danach einen größeren Brand, gefolgt von der Aufprallexplosion auf dem Boden. "Ein schlichtes Triebwerksversagen passt nicht zu diesem Szenario", sagte Ex- Luftfahrtinspektor Larry Vance der kanadischen Zeitung Globe and Mail.

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SZ vom 10.01.2020
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