Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik:Merkels Wegmarken

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Die CDU-Chefin wird wohl in absehbarer Zeit einen Weg finden müssen, um sich pragmatisch von der Kanzlerin zu distanzieren - nach den drei Landtagswahlen im März und falls bis Mitte dieses Jahres tatsächlich eine halbe Million zusätzliche Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden.

Kommentar von Kurt Kister

Das aktuelle Verhältnis der sogenannten Schwesterparteien CDU und CSU erinnert an die schlechtesten Zeiten von Franz Josef Strauß und Helmut Kohl. Der ungehobelte Alleswisser aus München setzte manchmal eben jener Schwesterpartei mehr zu, als dies SPD oder FDP taten. Heute wettert das Straußlein Seehofer gegen die Merkelsche Flüchtlingspolitik; Markus Söder, der im Habitus wohl sein Leben lang Nachwuchspolitiker bleiben wird, glaubt gar, Angela Merkels Politik sei "nicht demokratisch legitimiert". Zwar reden viele in der CSU so daher, als erwägten sie eine Koalition mit der AfD. Wirkliche Konsequenzen allerdings ziehen sie nicht. Sie mosern in München, regieren aber in Berlin mit.

Parteichefin Merkel wird wohl einen Weg finden müssen, um sich pragmatisch von der Kanzlerin Merkel zu distanzieren

Dennoch wird sich in diesem Jahr entscheiden, ob die Union insgesamt weiter Angela Merkel folgt. Im Moment brodelt es mehr denn je. Die Parteichefin Merkel wird wohl in absehbarer Zeit einen Weg finden müssen, um sich pragmatisch von der Kanzlerin Merkel zu distanzieren. Es könnte darauf hinauslaufen, dass sie den Ausnahmecharakter der Entscheidung vom vergangenen September stark betont und dann das Ende dieser Ausnahmezeit verkündet.

Auf dem Weg dahin wird es zwei Wegmarken geben: Bei den drei Landtagswahlen im März wird die AfD in die Parlamente einziehen, am stärksten in Sachsen-Anhalt. Die Umstände sind so, dass sie einer instabilen Protestpartei wie der AfD in die Hände spielen: Es gibt ein großes Thema, das sehr polarisiert; es gibt eine erkleckliche Anzahl von Leuten, die sich von den "Altparteien" nicht vertreten sehen; und außerdem hat die Stimmabgabe für sonderbare Parteien bei einer Landtagswahl keine direkten Konsequenzen für die Menschen, die im jeweiligen Land leben. Die Gemütslage nicht weniger Wähler im März wird sein: So geht's nicht weiter, "die" müssen einen Denkzettel kriegen, und im Übrigen ist's eh wurscht.

Die zweite Wegmarke für Merkel ist die Zahl der "neuen" Flüchtlinge. Sollte die bis Mitte 2016 in die Richtung der halben Million weisen, weil es immer noch keine europäische Grenzregelung und keine Kontingentierung in der EU gibt, wird Merkel, getragen und getrieben von ihrer Partei, einen als "vorübergehend" deklarierten, partiellen Aufnahmestopp organisieren müssen. Dies mag unter anderem eine zeitweise Schließung der deutschen Südgrenze bedeuten. Wenn es gut geht, wird das im Verbund wenigstens der willigen EU-Länder geschehen.

Retro-Nationalismus macht sich breit

Die Flüchtlingskrise hat auch gezeigt, dass die Europäische Union ihre besten Zeiten in den Neunzigerjahren erlebt hat. Damals bedeutete die EU Aufbruch in eine gemeinsame Freiheit und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute ist in der EU allenthalben vom Scheitern dieser Hoffnung die Rede. Retro-Nationalismus macht sich breit. Die einen wollen keine deutsche Dominanz, die anderen wollen, dass alles so bleibt, wie es nie war. Die massenhafte Wanderung von Menschen aus weniger privilegierten Regionen, die auch ohne die deutsche Willkommenskultur längst eingesetzt hatte, hat das auf gutem Willen basierende Schengen-System nebst der Drittstaatenregelung so schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass es vielleicht nicht mehr zu retten ist. Bitter.

Die Erosion Europas wird Merkel ebenso beschäftigen wie die allmähliche Beruhigung der Lage hierzulande. Auch wenn niemand bereitsteht, gegen sie zu putschen, wird sie für diese Mammutaufgabe die Unterstützung der CDU, der großen Koalition und sogar der CSU brauchen. Und dafür wird die pragmatische Selbstdistanzierung wohl nötig werden.

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Quelle:
SZ vom 16.01.2016
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