Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik der EU:Wenn Worte nichts mehr wert sind

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Man traut seinen Augen nicht: Das Zehn-Punkte-Programm der EU ist völlig unzulänglich. Von Schutz und Hilfe für Flüchtlinge ist da wenig zu lesen.

Kommentar von Stefan Braun

Es gibt begrüßenswerte, richtige Sätze nach dieser Katastrophe. Es gibt den Satz der Bundeskanzlerin, dass das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer eines Europa, das sich der Humanität verpflichtet fühle, nicht würdig sei. Es gibt den Satz des Außenministers, man könne dieses Problems nur Herr werden, wenn man die Fluchtgründe endlich an der Wurzel bekämpfe. Und dann ist da auch noch der Satz des Bundesinnenministers. Er hat gesagt, dass Migration schon schwer genug sei, sie dürfe nicht eine Angelegenheit von Leben und Tod sein. Alle drei Sätze klingen gut. Sie sind nicht falsch. Sie drücken aus, was sein müsste. Aber sie haben ihre Unschuld verloren. Sie zeigen, wie leer Politikerworte sein können.

Solche Sätze hat man schon zu oft gehört, sie stehen nicht für eine neue Initiative. Sie sind als Reaktion auf eine Flüchtlingstragödie zu oft eingesetzt worden. Die lebensgefährlichen Überfahrten sind Alltag zwischen der nordafrikanischen Küste und Italien. Sie gehören seit Jahrzehnten zu den bedrückendsten Problemen an Europas Außengrenzen. Bisher wurde nichts getan, um die Flüchtlinge zu schützen. Deshalb wirken diese Sätze wie Schrauben, die überdreht wurden: Sie halten nichts mehr; man kann ihnen nicht mehr vertrauen; sie sind unglaubwürdig.

Das, was jetzt versprochen wird, hätte schon längst getan werden können, sollen und müssen. Allen Initiativen hat das eigentlich Wichtige, das an erster Stelle Lebensrettende gefehlt. Und das Lebensrettende fehlt auch jetzt, nach der jüngsten Katastrophe. Ja, man muss die Schlepper bekämpfen. Ja, man muss die Lage in den Herkunftsländern verbessern. Ja, man muss die Lage in den Transitländern angehen, auch wenn das wie in Libyen verdammt schwer ist. Aber das Erste muss sein, dass verzweifelte Menschen nicht ertrinken. Deshalb hilft es nichts, wenn die Bundesregierung auf die Probleme in Europa verweisen kann - bei der Lastenverteilung, bei der Feigheit vor den rechten Parteien, die gegen Flüchtlinge polemisieren. Der Ärger darüber, dass Berlin viel zu wenig getan hat, wird dadurch nicht kleiner.

Zehn-Punkte-Programm: Man will seinen Augen nicht trauen!

Mare Nostrum, das Seenotrettungsprogramm der Italiener, ist Anfang 2015 eingestellt worden, weil andere EU-Staaten der Initiative aus Ärger die Unterstützung versagten. Italien hatte begonnen, Flüchtlinge ohne Asylverfahren in Züge nach Österreich, Deutschland, Frankreich zu setzen. Also erklärten diese Länder, so könne das nicht mehr weitergehen. Streit unter Partnern hatte die Seenotrettung eingeschränkt. Wie will man das den Angehörigen der Ertrunkenen noch erklären?

Jetzt soll das Zehn-Punkte-Programm der EU-Kommission Abhilfe schaffen. Doch wer es liest, will seinen Augen nicht trauen. Wieder fehlt genau das, was am dringlichsten gebraucht würde: eine Seenotrettung, die nicht als Grenzschutz daherkommt. Es fehlt das Bekenntnis, dass man zuallererst die Flüchtlinge und nicht die Schlepper, nicht die Schleuser, nicht die Vermittler und nicht die Übergangslagerwärter in den Blick nimmt. Ausgerechnet das findet sich nur wieder in einer sehr mäßigen Aufstockung der Gelder für die Grenzschutzorganisation Frontex. Das ist nicht human, das ist keine humanitäre Initiative. Das konterkariert die Worte von Angela Merkel. Rettung ist etwas anderes als Abschreckung.

Flüchtlings-Abschreckungsaktionen sind keine Flüchtlings-Rettungsaktionen. Europa kann nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen; es nimmt ohnehin nur einen Bruchteil auf. Aber Europa muss zuallererst für die Menschen in Not da sein. Erst kommt die erste Hilfe. Der Kampf gegen Schlepper und das Zurückschicken abgelehnter Asylbewerber kommen später. Glaubwürdig sein heißt, bei der Reihenfolge keine Fehler mehr zu machen.

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Quelle:
SZ vom 22.04.2015
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