Süddeutsche Zeitung

Fachkräfteoffensive:"Nicht nur auf uns schauen"

Lesezeit: 2 Min.

Der Bevölkerungsforscher Norbert Schneider sieht in der Fachkräfteoffensive eine gefährliche Entwicklung.

Interview von Boris Herrmann

Beim Fachkräfte-Gipfel zu Beginn der Wo-che im Kanzleramt herrschte ein unge-wöhnlich breiter Konsens: Bund und Län-der, Unternehmen und Gewerkschaften waren sich einig, dass die Zuwanderung von Fachkräften dringend erleichtert werden müsse. Norbert Schneider, der Direk-tor des Bundesinstituts für Bevölkerungs-forschung (BiB), kritisiert die eigennützige Perspektive des Gipfels.

SZ: Herr Schneider, Deutschland versucht verstärkt, Fachkräfte aus dem Ausland an-zuwerben. Was bedeutet das für die Her-kunftsländer?

Schneider: Durch die Abwerbung von Ärz-ten aus Bosnien zum Beispiel ist dort die medizinische Versorgung beeinträchtigt. Wir Deutsche beklagen uns ja über unsere Ärzte, wenn sie nach Norwegen oder in die Schweiz abwandern, um dort viel Geld zu verdienen. Wir halten ihnen vor, sie ließen sich hier umsonst ausbilden, brächten sich danach nicht mehr in die Gesellschaft ein und sahnten woanders ab. Gleichzeitig machen wir das in ähnlicher Weise mit anderen Ländern.

Mit welchen Ländern?

Im Fokus des Fachkräfte-Gipfels standen Indien, Brasilien, Mexiko und Vietnam. Es gehören aber auch Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kosovo dazu - drei Länder, die derzeit besonders unter einem solchen "Braindrain", also einem Talentverlust, nach Deutschland leiden.

Was konkret stört Sie an der deutschen Fachkräfte-Strategie?

Wenn man Zuwanderung von Fachkräften hauptsächlich oder ausschließlich unter der Nutzenperspektive der Aufnahmeländer betrachtet, wie es in Deutschland der Fall ist, aber auch seit Jahrzehnten in den USA, Kanada oder Australien, dann führt das langfristig und global dazu, dass das Wohlstandsgefälle durch Migration zunimmt. Wir dürfen aber im eigenen Interesse nicht nur auf uns schauen. Wir müssen das so gestalten, dass auch die Herkunftsländer davon profitieren. Das ist im politischen Diskurs für mich noch nicht erkennbar.

Was schlagen Sie vor?

Abwanderung kann ja immer auch brain circulation sein. Das bedeutet, dass die Menschen, die zu uns kommen, auch etwas zurücktransportieren. Entweder indem sie ihre Familienmitglieder von hier aus finanziell unterstützen. Oder indem sie ihre Erfahrungen nach ihrer Rückkehr in ihrem Heimatland einbringen. Unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die negativen Konsequenzen der Arbeitsmigration für die Herkunftsländer möglichst gering bleiben.

Mit welchen Mitteln?

Ich sehe drei Ansätze. Erstens: Im Fußball erhalten die Ausbildungsvereine einen An-teil von den späteren Transferkosten. Was wir im deutschen Arbeitsmarkt gegenwär-tig tun, ist ein breit gestreutes Outsourcing der Ausbildungskosten. Das könnten wir wie beim Fußball ein Stück weit rückerstat-ten. Zweitens kommen viele Fachkräfte mit der Absicht zu uns, nach einiger Zeit wieder zurückzukehren. Viele versuchen dann, sich selbständig zu machen. Aber sie lernen bei uns nicht, wie das funktioniert. Man könnte eine Pflegefachkraft hier befähigen, nach ihrer Rückkehr eine Pflegestation zu gründen. Das wäre ein klarer Beitrag zur brain circulation.

Und der dritte Punkt?

Wir dürfen nicht nur über Personen reden. Wir müssen über Familien reden. Vor Jah-ren, als wir die indischen IT-Spezialisten gesucht haben, da war der Inder willkom-men, aber seine Familie sollte tunlichst in Indien bleiben. Das ist eine katastrophale Botschaft: Wie sind an dir als Person nicht interessiert, sondern nur an deiner Ar-beitskraft. Wenn man jetzt also sagt, wir fördern gezielt die Mitwanderung von Kin-dern und Gatten, dann muss es auch darum gehen, diese Familienmitglieder hier auszubilden. Auch dieses Thema spielte beim Fachkräfte-Gipfel anscheinend kaum eine Rolle.

Das Interesse der Bundesregierung ist ja auch nicht, dass diese Menschen möglichst schnell zurückgehen, um dort Unternehmen zu gründen. Sie sollen hier den Fachkräftemangel beheben.

Das Problem, das ich sehe, ist eben genau diese Perspektive. Es kann nicht in unserem Interesse sein, aus bloßem Eigennutz die stetige Vergrößerung der Wohlstandslücke nicht zu beachten. Irgendwann wird das ein Ausmaß erreichen, das uns vor noch größere Probleme stellt, beispielsweise einen erhöhten Migrationsdruck, den wir dann in irgendeiner Weise politisch bewältigen müssen.

Das wäre vermutlich das Gegenteil davon, Migrationsursachen zu bekämpfen.

Das ist eher ein Weg, Migrationsursachen zu fördern.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2019
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