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Ex-Bundespräsident Walter Scheel gestorben:Walter Scheel, Mann der Härte und der Heiterkeit

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Der Altbundespräsident war einer, dessen Lachen ansteckte. Und er war ein unglaublich selbstbeherrschter Politiker, der seinen Weg mit eiserner Kraft ging. Erinnerungen.

Von Heribert Prantl

Es war dies sein letzter öffentlicher Auftritt auf der Bühne der Hauptstadt: Er steht da wie ein römischer Senator; seine Zeit als Feldherr liegt schon Jahrzehnte zurück. Er ist hochbejahrt, aber gar nicht greisenhaft; hochelegant, aber nicht geckenhaft; ein sehr hellgrauer Anzug. Der Kranz von weißen Locken sitzt auf seinem Kopf wie ein Lorbeerkranz.

Das war vor neun Jahren; da war er fast 88, sah aber aus wie frisch gestählt. Aus dem zerfältelten und trotzdem straffen Gesicht strahlten die blauen Augen; neugierig tasteten sie den Raum ab; ein Leuchten schien auf, wenn ein anderes Augenpaar dem seinen begegnete. Mit federnden Schritten, er überspielte damit seine leichte Wackeligkeit, eilte er auf andere Gäste zu, wartete nicht, bis sie zu ihm kamen, eröffnete locker das Parlando und beherrschte dabei sämtliche Töne: die leisen wie die lauten, die heiteren wie die ernsten, die bescheidenen wie die selbstbewussten.

Der amtierende Bundespräsident Horst Köhler, also einer seiner Nachfolger, hatte eingeladen ins Schloss Bellevue, in den Berliner Amtssitz, es war ein schöner Maitag im Jahr 2007. Man feierte den 85. Geburtstag von Egon Bahr. Drei Bundespräsidenten waren da: Scheel, der von 1974 bis 1979 deutscher Bundespräsident und seitdem Ehrenvorsitzender der FDP war; der 87-jährige Richard von Weizsäcker, Bundespräsident von 1984 bis 1994; und, 64-jährig, der amtierende Präsident Horst Köhler. Walter Scheel genoss es, beim Festessen nicht im Mittelpunkt zu stehen, andererseits aber von allen als das Oberhaupt der illustren Tafelrunde anerkannt zu werden.

Und so lehnte er sich erst einmal zurück, er lauschte, teils schmunzelnd, teils in sich gekehrt, wie Präsident Köhler seine ehrende Rede auf Bahr hielt und danach andere das Wort ergriffen, um ihre Begegnungen mit dem Jubilar zu schildern; dann meldete auch Scheel sich zu Wort - und schier sprudelte es nun aus ihm heraus.

Scheel war ein glänzender Unterhalter. Aber das war nur die eine Seite

Er reckte sich in die Höhe, die Jahre schienen von ihm abzufallen. Er hatte diebisches Vergnügen dabei, sich selbst als gefährlichen Umstürzler zu bezeichnen - als einen, der mehrere Bundesregierungen zu Fall gebracht, der Franz Josef Strauß vom Ministersessel gestoßen, der 1966 die schwarz-gelbe Koalition unter Ludwig Erhard beendet und dann der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt den Weg bereitet hat - dies alles, um, wie er sagt, eine andere Politik in Deutschland Platz greifen zu lassen, eine Politik mit frischem liberalen Wind, eine Politik der Entspannung, eine Politik zur Überwindung der Gräben zwischen Ost und West, eine Politik der Friedfertigkeit und Annäherung als Antwort auf den Kalten Krieg.

Mit ansteckender Begeisterung und so detailreich, als wäre es erst gestern gewesen, erzählte er von den Gesprächen mit Willy Brandt, und wie man sich unterhakte, als man dem Sturm der Entrüstung gegen die neue Ostpolitik trotzen musste. Scheel berichtet von den politischen Schachzügen, die Egon Bahr damals ersann und die er als Außenminister zu vertreten hatte; und man hörte Scheels Genugtuung darüber, dass diese sozialliberale Politik "mit der Wiedervereinigung gekrönt" wurde.

Diese intime Geburtstagsfeier im Schloss Bellevue war der letzte große Auftritt Walter Scheels. Man hat ihm sein hohes Alter sehr lange nicht angesehen, so wie man ihm in aktiven Zeiten auch seine Krankheiten nie angesehen hat. Scheel hat es geschafft, unbeschwert zu wirken, auch wenn er beschwert war; er litt - an den Nachwirkungen des Flecktyphus, den er sich im Winterfeldzug 1942/43 geholt hatte, ihn plagten Rückenschmerzen, Folge eines schwer vereiterten Rückgrat-Geschwürs, das man ihm damals herausgeschnitten hatte; fast sein ganzes Politikerleben lang hatte er Nieren- und Herzbeschwerden.

Scheel hielt es aber für seine Pflicht, immer gut gelaunt aufzutreten, er hielt das für die Pflicht aller Repräsentanten in einer Demokratie. Er war ein Mann von altrömischer Selbstdisziplin. Seine Heiterkeit, seine liebenswürdige Jovialität waren keine Maske, wie viele meinten, sondern echt. Aber es war nur die eine Seite dieses großen Politikers. Es hat nicht einen, es hat zwei Walter Scheel gegeben. "Heiterkeit und Härte" heißt die Festschrift, die Hans-Dietrich Genscher zu Scheels 65. Geburtstag herausgegeben hat.

Heiterkeit. Das war der eine Walter Scheel - ein glänzender Unterhalter, ein Anekdoten-Erzähler von hohen Graden, ein Ausbund an Lebensfreude. Johannes Heesters hat den "Graf von Luxemburg" auf der Bühne des Deutschen Theaters glänzend gespielt, Walter Scheel hat ihn auf der Bühne der damaligen Bundeshauptstadt Bonn glänzend gelebt. Er war von innen heraus fröhlich und in dieser Fröhlichkeit ansteckend; und wenn er seine feinen Schnurren darbot, wenn er glucksend und lachend zur Pointe kam, dann blitzten die blauen Augen des Alt-Bundespräsidenten noch genauso wie damals, als der junge Walter Scheel, das war 1956, seine politische Karriere als FDP-Kreisvorsitzender von Düren begann.

Die alten Altliberalen, Leute wie Burkhard Hirsch also, schwärmen von diesem Scheel - für den es keine Marketing-Aktion war, zusammen mit dem Düsseldorfer Männergesangsverein 1973 für die Aktion Sorgenkind "Hoch auf dem gelben Wagen" in der Fernseh-Show "Drei mal Neun" zu singen. Das war er, das gehörte zu ihm. Im Januar 1974 belegte das Lied Platz fünf in den bundesdeutschen Musikcharts. Deshalb haben ihn auch fast alle für einen Rheinländer gehalten, der er gar nicht war; er stammt aus dem Bergischen Land. Laute Lustbarkeiten liebte er allerdings nicht. "Wenn auf den Tischen getanzt wird, gilt für mich nur eines: die Flucht", hat er einmal gestanden.

Härte: Das war der zweite Walter Scheel, ein unglaublich zielstrebiger, selbstbeherrschter Politiker, der seinen Weg mit eiserner Kraft gehen, der Koalitionen mit berechnender Lust platzen lassen konnte. Der fröhliche Sänger war ein knallharter Politiker, ein Praktiker der Macht, einer, der Konfrontationen auf die Spitze trieb, um dann, zu guter Letzt, zu einem Kompromiss zu kommen, der für ihn und für die FDP viel günstiger ausfiel, als das am Beginn des Konflikts zu erwarten war.

"Liberal sein bedeutet immer auch Offensein für Veränderungen"

Er war kein Theoretiker, hatte aber, wie später Helmut Kohl, die Gabe, hervorragende Leute um sich zu versammeln, die das theoretische Instrumentarium lieferten, das erfolgreiche Politik braucht: Karl-Hermann Flach war FDP-Geschäftsführer und der kluge Geist der Partei, der dogmatisch-brillante Rechtsprofessor Werner Maihofer schrieb 1971 das Freiburger Programm; der aufgeklärte Politikprofessor Ralf Dahrendorf wurde Scheels Staatssekretär im Auswärtigen Amt; von 1969 bis 1974 war Scheel Bundesaußenminister und Vizekanzler unter Willy Brandt.

Wer wissen will, wie eine fulminante, eine brennende politische Rede aussieht, der lese die Rede nach, die Scheel am 27. April 1972 im Bundestag gehalten hat - als er befürchtete, das von Rainer Barzel und dessen CDU/CSU betriebene Misstrauensvotum gegen die Regierung Brandt/Scheel werde Erfolg haben. Das Misstrauensvotum hatte bekanntlich keinen Erfolg und aus dem Außenminister der sozialliberalen Regierung konnte 1974 (Brandt war wegen der Guillaume-Affäre zurückgetreten und Helmut Schmidt Bundeskanzler geworden) ein angesehener Bundespräsident werden.

Er war ein Bundespräsident, der eine der schwierigsten Ansprachen halten musste, die je ein Bundespräsident hat halten müssen: Die Trauerrede auf den von der RAF ermordeten Hanns Martin Schleyer, nachdem sich die Bundesregierung geweigert hatte, ihn gegen RAF-Gefangene auszutauschen. Man liest diese Ansprache noch immer mit großer Bewegung.

Walter Scheel war, anders als seine alten Parteifreunde Wolfgang Döring oder Thomas Dehler, in einem ganz unpolitischen Elternhaus aufgewachsen. Sein Vater war Stellmacher, der sich eine mittelständische Karosseriefirma in Solingen aufbaute. 1942 wurde der junge Scheel Leutnant der Luftwaffe, war beim ersten Winterfeldzug der Hitler-Armee in Russland dabei, bekam den "Gefrierfleischorden", zuletzt war er mit 25 Jahren ein erfahrener Offizier im 1. Nachtjagdgeschwader.

Der evangelische Christ Walter Scheel war Vater von vier Kindern und dreimal verheiratet. Seine zweite Frau Mildred rief die Deutsche Krebshilfe ins Leben, sie starb 1985. 1988 heiratete Scheel Barbara Wiese.

Das politische Leben Scheels begann, anders als bei den gleichaltrigen liberalen Führungsfiguren der Sechziger- und Siebzigerjahre, erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde erst in der frühen Adenauer-Zeit politisiert, dies aber kräftig. Er lernte, flexibel zu sein: Es war aber dies nicht die Wendigkeit eines Erich Mende, seines Vorgängers im Parteivorsitz der FDP, der das Hakenkreuz aus seinem Ritterkreuz herausfeilte, auf dass er den Orden noch tragen konnte. Scheel war einer, der sich im Vorhinein nie unwiderruflich festlegte; aber wenn er sich entschieden hatte, dann ganz und gar.

So konnte er seine Partei umschalten von Schwarz auf Rot - er hat die FDP aus der Koalition mit der Union, also aus der Koalition mit Adenauer und Erhard, zur SPD, also in die Koalition mit Willy Brandt und Helmut Schmidt geführt. "Liberal sein bedeutet", so hat er in seinem Buch "Erinnerungen und Einsichten" (im Gespräch mit dem Journalisten Jürgen Engert) gesagt, "immer auch Offensein für Veränderungen".

Scheel selbst nannte es seinen wichtigsten Erfolg als FDP-Parteichef, dass er 1969, am Abend vor der Wahl des Bundespräsidenten, bei den Wahlmännern und Wahlfrauen der FDP den SPDPolitiker Gustav Heinemann durchsetzen konnte. Alle zwanzig Jahre hat die Wahl des Bundespräsidenten eine besondere Bedeutung. So war das 1969 - zuerst wurde der Bundespräsident, dann der Bundestag neu gewählt. Die Wahl Heinemanns mit den Stimmen der FDP war, wie Heinemann es dann selbst formulierte, "ein Stück Machtwechsel".

Walter Scheel war stolz darauf, dass er, wie er dies selbst einmal sagte, auf seinem politischen Weg "alle politischen Ebenen in der richtigen Reihenfolge" absolviert hatte: 1946 war er der FDP beigetreten, 1948 wurde er Stadtverordneter in Solingen, 1950 Landtagsabgeordneter für Remscheid, 1953 Bundestagsabgeordneter, 1955 Mitglied der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, dem späteren Europäischen Parlament und dort Vizepräsident der liberalen Fraktion. Mit 42 Jahren wurde er Entwicklungshilfeminister im Kabinett Adenauer. Scheel hat dieses "Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit" erfunden.

Für eine zweite Amtszeit hätte Scheel Stimmen der CDU gebraucht. Die wollte er nicht

Thomas Dehler, der frühe bayerische Freidemokrat, hat über Walter Scheel gesagt, der renne nicht mit dem Kopf gegen die Wand, sondern suche eine verborgene Tür hinter der Tapete. Und wenn es die nicht gab? Dann setzte Scheel ausnahmsweise alles auf eine Karte. Zweimal, in der Spiegel-Affäre des Jahres 1962 und dann noch einmal beim Sturz des Bundeskanzlers Ludwig Erhard im Jahr 1966, war Scheel es ganz allein, der die Regierungskrise auslöste und alle und alles ins Rutschen brachte.

Plötzlich, so konstatiert der Historiker Arnulf Baring, schob Scheel nämlich alle taktischen Raffinessen und listigen Winkelzüge resolut beiseite und erklärte schlicht: "Ich drohe nie mit Rücktritt. Ich trete zurück. Und zwar hiermit, auf der Stelle!" Alle waren sprachlos. In beiden Fällen konnten die anderen FDP-Minister, mit seiner einsamen Entscheidung konfrontiert, nichts anderes tun, als ihrerseits mitzumachen und gleichfalls zurückzutreten. Und damit war jeweils der Weg zu neuen Konstellationen und Lösungen offen.

1962, als Scheel zum ersten Mal den Rücktritts-Coup inszenierte, war Erich Mende offiziell noch Parteichef der FDP, aber Scheel hatte praktisch die Führung schon übernommen. Und er spielte sie 1966, in der Regierung des CDU-Kanzlers Ludwig Erhard, aus: Er bestand darauf, dass ein Bundeshaushalt ohne Steuererhöhung vorzulegen sei; Kanzler Erhard hatte unter anderem die Sektsteuer erhöhen wollen. Es passt zum perlenden Ruf von Walter Scheel, dass er die Regierung Ludwig Erhard an der Sektsteuer scheitern ließ.

Als Walter Scheel vor 37 Jahren seinen 60. Geburtstag feierte, lag das Amt des Bundespräsidenten schon hinter ihm. Eine zweite Amtszeit hatte er nicht angestrebt. Er wäre auf einige Stimmen der Union angewiesen gewesen; die waren ihm zwar angeblich von Kohl versprochen worden, aber Scheel wollte das nicht. Er hat dann aus seinem langen Ruhestand ein glückliches neues Leben gemacht, vollgefüllt mit Ehrenpräsidentschaften, bis er dann vor einem halben Jahrzehnt hinfällig wurde. Im Jahr 2009 hat er sein Büro im Rathaus von Bad Krozingen im Hochschwarzwald aufgegeben. Ein Flügel des Rathauses wurde in "Bundespräsident-Walter-Scheel-Haus" umbenannt, sein früheres Büro dort wurde Erinnerungsstätte.

Scheel hat, solange er noch agil war, und das war er bis über den neunzigsten Geburtstag hinaus, gern einen Satz über das Älterwerden zitiert, der von Gustav Heinemann stammt (mit diesem Satz hat Heinemann die Kandidatur zu einer zweiten Amtszeit abgelehnt, und Scheel wurde sein Nachfolger). Der Satz geht so: "Das Alter ist durch drei Phasen gekennzeichnet: Zuerst stellt man es selbst fest; dann merken es auch die anderen; schließlich merken es nur noch die anderen." Walter Scheel ist lange das Kunststück gelungen, dass er in der ersten Phase des Alterns verharrte. Erst in den letzten Jahren war das anders. Seit 2012 lebte er wegen seiner Demenzerkrankung in einem Pflegeheim.

Am Mittwoch ist der Alt-Bundespräsident in Bad Krozingen gestorben.

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SZ vom 25.08.2016
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