Süddeutsche Zeitung

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte:Wächter über das Unmögliche

Lesezeit: 4 min

Unter den 47 Mitgliedern des Europarats stellen Russland und die Türkei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die heikelsten Aufgaben. Doch auch westliche Länder lehnen sich auf.

Von Wolfgang Janisch, Straßburg

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war schon immer für das Unmögliche zuständig. Wächter über die 47 Staaten des Europarats, von Aserbaidschan bis zur Ukraine - auf einer Landkarte der Rechtsstaatlichkeit würden die dunklen Flächen deutlich überwiegen. Wer an der Spitze eines solchen Gerichts steht, der muss Jurist sein, vor allem aber: Optimist und Diplomat. Deshalb lobte Guido Raimondi, Präsident seit Ende 2015, bei einer Pressekonferenz vor wenigen Tagen die Türkei für die Installierung einer Kommission zur Überprüfung von Massenentlassungen. Und merkte an, dass Russland die Urteile aus Straßburg in der großen Mehrzahl der Fälle umsetze.

Das ist deshalb bemerkenswert, weil beide Staaten zu den Sorgenkindern des Gerichts gehören. Das russische Verfassungsgericht hat gerade entschieden, dass Russland die Milliardenentschädigung nicht zahlen wird, die der Straßburger Gerichtshof der Moskauer Regierung wegen der Zerschlagung des Yukos-Konzerns auferlegt hat. Das ist eine offene Verweigerung der Gefolgschaft, wie bereits im vergangenen Jahr, als das russische Gericht eine Straßburger Rüge zum Ausschluss von Häftlingen vom Wahlrecht zurückwies. Eingeleitet wurde dies durch ein russisches Gesetz von 2015 - Menschenrechtsurteile sollten fortan unter dem Vorbehalt der Anerkennung durch Russland stehen. Dies sei eine "Quelle der Sorge", kommentierte Raimondi immerhin.

Man kann es daher als Signal deuten, dass dieser Tage Angelika Nußberger zur Vizepräsidentin des Menschenrechtsgerichts aufgerückt ist. Die deutsche Völkerrechtlerin, seit 2011 in Straßburg, hatte in den Achtzigerjahren in Moskau studiert und kennt das russische Rechtssystem und dessen Akteure wie kaum jemand sonst - auch den russischen Verfassungsgerichtspräsidenten Walerij Sorkin. Weil zur Durchsetzung des Rechts auch der Dialog mit den kritischen Staaten gehört, spielt sie - verbindlich im Ton, klar in der Verteidigung der Menschenrechte - in der prekären Beziehung eine zentrale Rolle.

Sorgenkind Nummer zwei, die Türkei. Die Verhaftungen und Entlassungen nach dem Juli-Putsch haben eine Welle von mehr als 5000 Beschwerden nach Straßburg gespült. Doch der Gerichtshof hat die türkischen Kläger vorerst auf den Rechtsweg vor türkischen Gerichten verwiesen. Das mag formalistisch anmuten, ist aber aus Straßburger Sicht nachvollziehbar: Der Vorrang der nationalen Justiz gehört zu den ehernen Prinzipien des Gerichts. Doch dies ist nur ein Zwischenschritt. Sollte sich das türkische Verfassungsgericht in den ersten Verfahren für nicht zuständig erklären, würde das Menschenrechtsgericht seine Arbeit aufnehmen. Raimondi drückte das so aus: "Der Zugang zum Gerichtshof bleibt offen."

Russland und die Türkei stehen für eine Erosion rechtsstaatlicher Strukturen, wie sie in unterschiedlicher Ausprägung auch anderswo zu beobachten ist. In Polen zum Beispiel wird das Verfassungsgericht sukzessive entmachtet. Auch in Ungarn ist die Unabhängigkeit der Justiz unter Beschuss. Wird der Menschenrechtsgerichtshof von diesem Niedergang des Rechts erfasst? Oder wird er, wenn nationale Institutionen bröckeln, erst recht zum letzten Leuchtfeuer der Hoffnung?

Wahrscheinlich beides. Wobei sich zunächst die Frage stellt, was das Gericht überhaupt ausrichten kann. Wenn die polnische Pis-Partei das Verfassungsgericht nach und nach mit eigenen Leuten durchsetzt, wird das Europa-Gericht dem vermutlich nicht viel entgegensetzen können. Zwar wurde im vergangenen Sommer Ungarn verurteilt; der Gerichtshof gab dem vorzeitig seines Amtes enthobenen ungarischen Richter András Baka recht. Prinzipiell jedoch gelten Menschenrechte nur individuell, der Umbau eines Gerichts dagegen ist Staatsorganisation - für deren Kontrolle die Instrumente des Gerichtshofs nicht gemacht sind.

Auch der Umgang mit türkischen Fällen wird nicht einfach. Bei den Entlassungen Zehntausender Staatsbediensteter galt der Ausnahmezustand. Hier dürfte der Straßburger Gerichtshof nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz haben. Gewiss, Folter ist nach der Menschenrechtskonvention auch in Zeiten des Notstandes nicht erlaubt. Doch in welchem Maß gilt das auch für die Entlassungen? Dass die Verhängung des Ausnahmezustandes durch Recep Tayyip Erdoğan völlig willkürlich gewesen sei, wird man mindestens für die erste Zeit nach dem Putsch nicht sagen können. Auch Frankreich hat den Ausnahmezustand verhängt - nach Terroranschlägen, die zwar die Bevölkerung in Schrecken versetzten, aber nie auch nur in die Nähe eines Umsturzes kamen. Überhaupt muss man sagen: Wer sich um eine Schwächung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sorgt, der sollte nicht nur nach Osten blicken. Polen lag vergangenes Jahr bei der Zahl der Verurteilungen in der Nähe von Frankreich und Portugal. Ungarn räumt der Europäischen Menschenrechtskonvention nach wie vor einen wichtigen Rang in der nationalen Gesetzeshierarchie ein. "Es ist immer noch ein Dorn für diese Länder, wenn sie sich wegen eines Verstoßes gegen die Menschenrechte rechtfertigen müssen", sagt Franz Mayer, Völkerrechtsprofessor in Bielefeld.

Vor allem aber gibt es auch im Westen latente Absetzbewegungen, die man in Straßburg womöglich noch bedrohlicher findet. In Großbritannien war es 2013 eine Innenministerin namens Theresa May, die den Austritt aus der Konvention androhte - und dies als Premierministerin wiederholt hat. In Frankreich hat der inzwischen strauchelnde republikanische Präsidentschaftskandidat François Fillon Berichten zufolge einen Rückzug befürwortet: "Der Gerichtshof mischt sich mehr und mehr in gesellschaftliche Fragen ein, die unsere Identität ausmachen." Und in der Schweiz betreibt die Volksinitiative "Schweizer Recht statt fremde Richter" mindestens eine Abwertung, wenn nicht Kündigung der Menschenrechtskonvention.

Deutschland dürfte deshalb noch die verlässlichste Stütze des Gerichts sein, auch wenn das nicht immer so war. Mit seinem Görgülü-Beschluss von 2004 - Urteile aus Straßburg sind in Deutschland "zu berücksichtigen", aber nicht zwingend umzusetzen - war das Bundesverfassungsgericht zuerst auf Distanz gegangen. In den vergangenen Jahren hat Karlsruhe sich freilich, trotz anhaltender Differenzen, ostentativ darum bemüht, die Urteile der europäischen Kollegen umzusetzen. Ob die westlichen Staaten das Gericht unterstützen oder torpedieren, dürfte für dessen Zukunft entscheidend sein. Welche der beiden Varianten sich durchsetzt, ist noch nicht ausgemacht.

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SZ vom 03.02.2017
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