Süddeutsche Zeitung

EU-Gerechtigkeitsindex:Arm trotz Vollzeitjob

Lesezeit: 2 min

Vom Aufschwung am EU-Arbeitsmarkt profitieren nicht alle. Die Gruppe, deren Einkommen nicht zum Leben reicht, wächst beständig. Insgesamt laufen 118 Millionen Europäer Gefahr, materielle Not zu leiden.

Von Ulrike Heidenreich, München

Wie kann das sein? Man geht morgens früh aus dem Haus, kommt abends spät zurück, dazwischen gibt es nur Arbeit, Arbeit, Arbeit - und trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht. Obwohl sie einen Vollzeitjob haben, sind in Europa immer mehr Menschen von Armut bedroht. Inzwischen sind es 7,8 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, vor zwei Jahren waren es noch 7,2 Prozent. Es ist eine paradoxe Situation, denn parallel dazu geht es mit dem Arbeitsmarkt bergauf. Dieser Aufschwung kommt aber beileibe nicht überall an. In einer neuen Rangliste zur sozialen Gerechtigkeit liegt Deutschland zwar auf einem respektablen siebten Platz im EU-Vergleich, nach wie vor ist aber auch hierzulande das Armutsrisiko zu hoch.

"Ein steigender Anteil von Menschen, die dauerhaft nicht von ihrer Arbeit leben können, untergräbt die Legitimität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung", warnt Aart de Geus, Chef der Bertelsmann-Stiftung. Jahr für Jahr werden hier für den EU-Gerechtigkeitsindex sechs verschiedene Kriterien für ein gutes soziales Miteinander untersucht: Wie sieht es in den 28 Mitgliedsstaaten aus bei der Bildung, der Armut, der Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt und bei der Generationengerechtigkeit? Ist gesellschaftlicher Zusammenhalt da, oder werden Menschen diskriminiert? Die Spitzenplätze belegen diesmal Schweden, Finnland und Dänemark. Schlusslicht bleibt Griechenland, noch hinter Rumänien und Bulgarien.

Die gute Nachricht ist: Der Abwärtstrend beim Blick auf die Gerechtigkeitsskala scheint gestoppt zu sein, der Tiefpunkt war 2014 erreicht worden. Europa erhole sich langsam von der Wirtschafts- und Finanzkrise, so die Forscher. Das Problem: Trotzdem ist immer noch jeder vierte Europäer von Armut bedroht, das sind etwa 118 Millionen. Nach EU-Definition gelten als armutsgefährdet alle Personen, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Bevölkerung auskommen müssen. Als Ursache nennt Studienautor Daniel Schraad-Tischler unter anderem den wachsenden Niedriglohnsektor sowie eine Spaltung der Arbeitsmärkte in reguläre Beschäftigung einerseits und Leiharbeit, Teilzeitbeschäftigung oder zeitlich befristete Arbeitsverträge andererseits. Hier reicht der Vollzeitjob oft nicht mehr zum Leben - und die Gruppe, für die Soziologen den Ausdruck "working poor" geprägt haben, wächst beständig.

Die großen Verlierer nach der Wirtschaftskrise in der EU sind Kinder und Jugendliche

Deutschland hat europaweit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote (7,2 Prozent). Dennoch bemängelt die Studie Probleme bei der sozialen Durchlässigkeit im Bildungssystem und das nach wie vor hohe Risiko, in die Armut zu schlittern. Der Anteil der davon bedrohten Vollzeitbeschäftigten ist von 5,1 Prozent im Jahr 2009 auf 7,1 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Immerhin gab es eine leichte Verbesserung im Vergleich zum Jahr 2014: Dies deute auf erste Wirkungen nach der Einführung des Mindestlohns hin, heißt es im "Social Justice Index 2016". Schraad-Tischler sagt: "Wir waren überrascht, dass trotz steigender Beschäftigung in Europa das Armutsrisiko, auch in Deutschland, nicht geringer wird."

Südeuropäische Länder haben besonders mit einem hohen Anteil von Jugendlichen zu kämpfen, die weder über einen Job noch über eine solide Ausbildung verfügen - und somit geringe Chancen auf einen sozialen Aufstieg haben. In Italien gehört fast ein Drittel der Jugendlichen zu dieser abgehängten Gruppe, in Griechenland sind es 26 Prozent, in Spanien 22 Prozent.

Europaweit wächst zudem die Kluft zwischen Jung und Alt. Es sind mehr Kinder von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen als ältere Menschen (26,9 zu 17,4 Prozent). Bereits jetzt muss jedes zehnte Kind in Europa "schwerwiegende materielle Entbehrungen" ertragen, heißt es in der Untersuchung. Bei den über 65-Jährigen sind es indes nur 5,5 Prozent. Kinder und Jugendliche seien nach der Wirtschaftskrise die großen Verlierer in den EU-Staaten. In Griechenland, Italien, Spanien und Portugal läuft etwa jedes dritte Kind Gefahr, in Armut zu leben.

"Die wachsende Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen spielt den erstarkenden populistischen Bewegungen in die Hände. Wir dürfen nicht riskieren, dass sich die Jugend frustriert zurückzieht", sagt Aart de Geus. Die Situation der abgehängten jungen Europäer sei eine Gefahr für die Zukunft der Gesellschaft.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3248775
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.11.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.