Süddeutsche Zeitung

Zukunft der EU:Europas Republik

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Rezension von Isabell Trommer

Am 11. März 1882 hält der französische Religionswissenschaftler und Schriftsteller Ernest Renan an der Sorbonne in Paris eine Rede mit dem Titel "Was ist eine Nation?".

Sie ist ein Schlüsseldokument der politischen Ideengeschichte. Weder Geografie noch Sprache, hält Renan fest, weder Abstammung noch Religion oder Gemeinschaft der Interessen allein böten eine hinreichende Grundlage für eine moderne Nation.

Und: "Ein Zollverein ist kein Vaterland." Die Nation sei vielmehr ein "geistiges Prinzip", eine "große Solidargemeinschaft". An diese Überlegungen scheint die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot mit dem Titel ihres neuen Buches "Was ist die Nation?" anknüpfen zu wollen.

Seit einigen Jahren ist in Europa von einer Wiederkehr der Nationalismen die Rede. Guérot versucht, dem Nachdenken über Nation und Europa einen anderen Dreh zu geben. Bei ihr richtet es sich nicht auf die Einzelstaaten, sondern auf die Entstehung einer europäischen Nation.

Sollte Europa zu einer Solidargemeinschaft werden, so ihre Überlegung, wäre es damit auch eine Nation, freilich nicht im ethnischen Sinne. Ein bedeutender Bezugspunkt ist für sie dabei der französische Soziologe Marcel Mauss, der in einer integrierten Gesellschaft die erste Bedingung einer Nation sah.

Laut Guérot liegt in der gemeinsamen Krisenerfahrung, wie Europa sie gerade hinter sich habe, eine Gelegenheit. Die Brexit-Krise könne zur Herausbildung einer gemeinsamen Nation führen, schreibt die Politikwissenschaftlerin, die seit Jahren für ihre Idee einer europäischen Republik wirbt.

Versöhnung der Begriffe "Europa" und "Nation"

Für Guérot steht und fällt alles mit der sozialen Integration. Rechts- und Sozialstaatlichkeit dürften auf europäischer Ebene nicht entkoppelt sein; eine politische Einheit lasse sich nur herstellen, wenn Bürgerinnen und Bürger gemeinsam über das sozioökonomische Gefüge entschieden.

Die Autorin befasst sich sowohl aus historischer als auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff der Nation und kritisiert die Entwicklungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten in den vergangenen Jahren. Dabei ruft sie ins Gedächtnis, dass Nationen, wie sie das 19. und 20. Jahrhundert dominiert haben, nicht immer das vorherrschende Strukturprinzip in Europa waren.

Ulrike Guérot geht es darum, mit "Nation" und "Europa" zwei Begriffe miteinander zu versöhnen, die in der Regel gegeneinander ausgespielt würden. Letztlich leuchtet aber nicht ein, warum sie den Begriff der Nation für ihre Vorstellung einer künftigen Ordnung überhaupt braucht, warum sie nicht etwa bei Solidargemeinschaft oder Republik bleibt.

Man folgt Guérots Überlegungen mit Sympathie, wünscht sich aber insgesamt doch mehr Genauigkeit.

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Quelle:
SZ vom 09.03.2020
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