Süddeutsche Zeitung

Ermittlungspanne:Anis Amri, der Mann mit dem Koks

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Von Ronen Steinke

Der Kokainmarkt in Berlin, so drückt es ein Ermittler aus, ist nicht so wahnsinnig fragmentiert: im Wesentlichen ein Geschäft für große Banden. Drei, vier libanesisch-palästinensische Familien stecken in der Hauptstadt die Claims ab. Einer dieser Familien gehörte die Shisha-Bar in Neukölln, die an einem Montagmorgen um 6.25 Uhr noch geöffnet hatte, als Anis Amri dort eintrat. Es war der 11. Juli 2016.

Was dann geschah, ist als Messerstecherei im Drogenmilieu beschrieben worden. Aber das klingt fast verharmlosend, der Gewaltausbruch war offenbar alles andere als spontan. Amri kam an diesem Morgen gemeinsam mit einem Komplizen, der ein Messer zückte, Amri selbst verwendete einen mit Gummi überzogenen Hammer als Waffe.

Es war eine Verabredung mit Rivalen auf der Ebene der Straßendealer, der Fußsoldaten des Drogengeschäfts also. Zwei gegen zwei, so hat es die Staatsanwaltschaft Monate später rekonstruiert: In der Shisha-Bar traf man sich zur "Klärung von Differenzen" um den Verkauf von Kokain und Amphetaminen am Schlesischen Tor und am Kleinen Tiergarten.

Der spätere Terrorist Amri verdiente hier sein Geld. Er hatte einen Chef, er hatte Kollegen - und Konkurrenten. Vor Gericht gestellt wurde wegen der Shisha-Bar-Schlägerei freilich nur einer der vier Männer, der Komplize Amris mit dem Messer, und auch dies erst vor zwei Wochen. Amri war da schon seit einem halben Jahr tot.

Die Ermittler zogen falsche Schlüsse

Dass Amri im Milieu der organisierten Kriminalität verkehrte, wusste das LKA. Interessanterweise bezogen die Ermittler es sogar bei ihren Überlegungen zur Terror-Abwehr in ihr Kalkül mit ein. Der korrekte Aktenvermerk des Landeskriminalamts vom 1. November 2016, wonach Amri gewerbsmäßig und als Teil einer Bande dealte, wurde mutmaßlich bloß nachträglich getilgt, um dieses Wissen zu vertuschen. Denn die Ermittler zogen falsche Schlüsse. "Es ist nicht so, dass irgendeiner, der gestern noch Kleinkrimineller war, plötzlich einen Anschlag begeht. Das ist nicht die Erfahrung, die wir haben", sagte der LKA-Chef Christian Steiof in einer Sitzung des Berliner Innenausschusses am 23. Januar. Wer Koks verkauft, der könne kein radikaler Frömmler mehr sein, so die Annahme. Also gestattete man sich aufzuatmen.

Doch dass islamistische Attentäter zuvor als Kleinkriminelle auffallen, ist in Wahrheit nicht die Ausnahme. Es ist die Regel. Das zeigen alle Studien, auch eine des BKA. Von allen Leuten, die aus Deutschland in den Dschihad ausgereist sind, waren zwei Drittel zuvor wegen gewöhnlicher Kriminalität polizeibekannt. Ein Motiv, das häufig genannt wird, ist die scheinbar "reinigende Wirkung des Dschihad". Eine Art religiöser Ablass für die weltlichen Laster, von denen man nicht lassen kann.

Einer 2015 erschienenen Studie zufolge wurden 40 Prozent der Anschläge in Europa in den vergangenen zwanzig Jahren sogar durch Kriminalität finanziert. Gilt das auch im Fall Amri? Berlins Generalstaatsanwalt Ralf Rother hat das prüfen lassen, aber "keine Anhaltspunkte" dafür gefunden, dass "arabische Clans die islamistische Szene insbesondere bei Anschlägen finanziell unterstützen".

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Quelle:
SZ vom 19.05.2017
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