Süddeutsche Zeitung

Entschädigung von NS-Opfern:Das lange Warten

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Noch immer warten frühere Arbeitssklaven der Nazis auf Entschädigung. Bisher wurden nur 500 der 16.000 Anträge bewilligt. Der Unmut ist groß: Jüdische NS-Opfer werfen der Bundesregierung mangelndes Verständnis vor.

Robert Probst

"Den deutschen Behörden fehlt das Vertrauen - es gibt zu viel Bürokratie und zu wenig Empathie." Noach Flug, 82, kennt sich aus mit deutschen Behörden. Er spricht über eine Lücke bei der Entschädigung von NS-Opfern - die der jüdischen Ghettoarbeiter.

Flug, heute Vorsitzender der Organisation der Holocaust-Überlebenden in Israel, wurde einst selbst 68 Monate lang im Ghetto Lodz gefangengehalten, wo er in Rüstungsbetrieben schuftete, um nicht in ein Vernichtungslager deportiert zu werden.

Doch die inzwischen hochbetagten Überlebenden warten nun schon seit Jahren vergeblich auf das Geld, ein 2002 geschaffenes Gesetz erwies sich als wenig praktikabel - fast alle der knapp 70.000 Anträge wurden abgelehnt.

Nicht sehr positiv lässt sich nun auch die Auszahlung eines im Oktober aufgelegten 100-Millionen-Euro-Fonds an, aus dem Betroffene eine einmalige Anerkennungsleistung erhalten sollen. Erstes Fazit nach einem halben Jahr: Von bisher 16 000 Anträgen wurden gerade einmal 500 bewilligt.

Das "Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" (ZRBG) stand von Anbeginn unter keinem guten Stern. Basierend auf einem Urteil des Bundessozialgerichts verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, wonach Juden, die während des Weltkriegs in einem Ghetto im deutschen Besatzungsgebiet "aus eigenem Willensentschluss" und "gegen Entgelt" gearbeitet hatten, Anspruch auf Rente erworben haben.

Eine Ablehnungsquote von 95 Prozent

Die Begriffe "freiwillig" und "gegen Entgelt" sollten Ghettoarbeiter von Zwangsarbeitern abgrenzen - letztere wurden in den vergangenen sechs Jahren aus dem Fonds "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" durch Einmalzahlung von bis zu 7500 Euro entschädigt.

Doch wie soll man nach mehr als 60 Jahren entscheiden, ob jemand in der lebensbedrohlichen Zwangssituation eines Ghettos freiwillig einer geregelten Arbeit nachging, und ob in Zeiten extremer Hungersnot einige Extra-Lebensmittelrationen als Entgelt im Sinne der Rentenversicherung gelten können?

Die Landesversicherungsanstalten lehnten 95 Prozent aller Anträge ab, mit der Folge, dass nun Tausende Klagen vor diversen Sozialgerichten anhängig sind; die Urteile des Bundessozialgerichts widersprechen sich in wichtigen Details, sodass eine letztgültige Rechtsprechung erst in einigen Jahren zu erwarten ist - viel zu spät für die Betroffenen.

Sehr oft fiel das Wort "absurd"

Am Münchner Institut für Zeitgeschichte trafen sich jüngst Vertreter von Ministerien und Rentenversicherungen, Sozialrichter und Historiker, um über Lösungen zu diskutieren.

Als Hauptproblem gilt, wie die Betroffenen in einem historisch relativ unerforschten Bereich und angesichts von mehr als 1100 Ghettos in Ost-Mitteleuropa zwischen 1939 und 1944 ihre Arbeit dort - meist ohne irgendwelche Dokumente - glaubhaft nachweisen sollen.

Meist wird hierzu nach Aktenlage und mit geringem historischen Wissen entschieden, nur hie und da werden Gutachten in Auftrag gegeben. Sehr oft fiel auch das Wort "absurd", weil das Gesetz mit der Exaktheit der bundesdeutschen Bürokratie Begriffe auf Verhältnisse im NS-Staat überträgt, der es auf die Auslöschung der Juden in Europa angelegt hatte und für den Ghettos letztlich nur der "Vorselektion zur Vernichtung" dienten.

Und wenn auch die Vertreter von Finanz- und Arbeitsministerium stets betonten, es handle sich beim ZRBG nicht um eine Entschädigungsleistung, sondern um einen "rentenrechtlichen Nachteilsausgleich", so berichteten Anwälte der Überlebenden doch von deren Gefühl eines "deutlichen Gerechtigkeitsdefizits".

Die Bundesregierung hatte das Problem im Oktober aufgegriffen und nach massiver Kritik zusätzlich zum ZRBG eine Richtlinie für einen 100-Millionen-Euro-Fonds erlassen, aus dem Betroffene, die bisher wegen der Verzögerungen vor Gericht keine Rente bekommen, Anspruch auf eine einmalige symbolische Anerkennungsleistung von 2000 Euro haben.

Ghettos, die bislang nicht bekannt waren

Hier sind die Kriterien zwar weniger streng, doch muss geprüft werden, ob die Antragsteller nicht Geld aus der Zwangsarbeiterstiftung erhalten haben. Offenbar gibt es noch weitere Hürden, an die wohl vorher niemand gedacht hatte. So kamen nun etwa 4000 Anträge zu Ghettos, von deren Existenz dem Finanzministerium bisher gar nichts bekannt war. Tausende Rückfragen an die meist im Ausland lebenden Antragssteller waren die Folge, nur wenige Hundert kamen bisher in den Genuss der 2000 Euro.

Der Repräsentant der Jewish Claims Conference in Deutschland, Georg Heuberger, ist enttäuscht über die schleppende Auszahlung aus dem Fonds. Kanzlerin Angela Merkel habe eine unbürokratische und schnelle Lösung gewünscht. "Dieser politische Wunsch wurde bisher nicht umgesetzt." Zudem fordert die JCC - die den Fonds als solchen begrüßt hat, aber eine höhere Summe wünscht - individuelle Anschreiben an alle potentiell ZRBG-Betroffenen in den jeweiligen Landessprachen.

Dazu habe die Regierung eine "moralische Verpflichtung". Bisher werden die NS-Opfer nur über die Internetseite des Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen ( www.badv.bund.de) informiert. Doch "85-jährige Holocaust-Überlebende sind keine 16-jährigen Kids", sagt Heuberger.

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Quelle:
SZ vom 17.4.2008/odg
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