Süddeutsche Zeitung

Die Geiseln der Farc-Guerrilla:Verdammte zwischen allen Fronten

Lesezeit: 8 min

Es sind Tausende, und ihr Martyrium im Dschungel dauert oft Jahre - nun bedroht auch noch ein aufziehender Krieg alle Versuche, die Geiseln der Farc-Guerilla in Kolumbien frei zu bekommen.

Peter Burghardt

Wenn Magdalena Rivas ihren Sohn hören will, dann braucht sie einen DVD-Recorder. Ihre Enkelin schleppt den Apparat ins enge Wohnzimmer und schließt ihn an. Das Mädchen kennt ihren Onkel nur von dieser glitzernden Plastikscheibe - sie war erst 18 Monate alt, als er im kolumbianischen Dschungel verschwand. Vor bald einem Jahrzehnt war das. Sie stellt auf Vorlauf, andere Gesichter dieser Tragödie huschen vorüber.

Dann zeigt der Fernsehschirm einen hageren jungen Mann mit hoher Stirn und im blauen Sweatshirt vor einem geblümten Verdeck, Gezwitscher und Gezirpe lassen üppige Natur vermuten. "Ich bin Leutnant Elkin Hernández Rivas von der Nationalpolizei, entführt am 14. Oktober 1998", sagt eine traurige Stimme. "Ein besonderer Gruß an meine Familie. Ich bin froh, nach so vielen Jahren grüßen zu dürfen." Er spricht ungefähr zehn Minuten lang. Seiner Mutter laufen die Tränen herunter, dabei hat sie den Hilferuf schon so oft gesehen.

Es ist das fünfte und bisher letzte Lebenszeichen von Elkin Hernández, einem von drei Kindern der Schuhmacher Magdalena Rivas und Silvio Hernández, eines von 4500 Opfern im größten Geiseldrama der Welt. Die Aufnahme ist schon wieder mehrere Monate alt, sie wurde den Eltern im Juli 2007 zugespielt. Das Video machte Hoffnung - und gibt eine Ahnung von dem, was fast zehn Jahre Haft bei der marxistischen Guerilla-Organisation Farc bedeutet. "Er sieht schlecht aus, die Haare fallen ihm aus, uns tut das sehr weh", sagt Magdalena Rivas.

Sie sitzt in ihrer Wohnung im heruntergekommenen Süden von Bogotá, an der Wand hängt ein Foto ihres Elkin von 2002 in Ketten und eines von früher, in Uniform. 32 wird er im Juni. 3465 Tage und Nächte sind vergangen, seitdem ihn das Kommando15 der Farc an einer Landstraße der Region Caquetá mitnahm. Seitdem sind die Hernández Rivas Gefangene einer Schlacht, die schon 40 Jahre währt. Und jetzt fürchten sie obendrein Krieg.

Die Mütter der Plaza Bolivár

Am Wochenende hat die kolumbianische Luftwaffe überraschend den stellvertretenden Farc-Befehlshaber mit Kampfnamen Raúl Reyes getötet sowie 16 weitere Rebellen, die sich hinter die ecuadorianische Grenze zurückgezogen hatten. Seither eskalieren lange gärende Feindschaften. Die linken Präsidenten von Ecuador und Venezuela, Rafael Correa und Hugo Chávez, werfen Kolumbiens rechtskonservativem Präsidenten Álvaro Uribe eine Verletzung des Hoheitsgebietes vor.

Beide haben die diplomatischen Beziehungen abgebrochen und lassen Truppen aufmarschieren. Uribe beschuldigt Correa und Chávez, die Farc zu unterstützen. Für die Entführten und ihre Angehörigen ist das eine Katastrophe. Denn Chávez war zuletzt der erfolgreichste Vermittler, sechs Politiker kamen in den vergangenen Wochen frei. Correa behauptet, er habe weitere Freilassungen einleiten wollen. Reyes war der Sprecher und Chefdiplomat der Farc. Nun könnte alles noch komplizierter werden und gefährlicher. Magdalena Rivas sagt: "Wir haben Angst."

Ein grauer Vormittag auf der Plaza Bolívar in der historischen Altstadt Bogotás, aus tiefen Wolken fällt dünner Regen. Zwei Männer und 13 Frauen stehen mit Bildern von Entführten neben dem Parlamentsgebäude, seit 1998 wiederholt sich dieses Ritual jeden Dienstag. Magdalena Rivas hält ein Plakat mit ihrem uniformierten Elkin darauf. "Was haben Sie in den letzten zehn Jahren gemacht?", fragt der Text dazu. "Alles das, was wir nicht tun konnten, wir sind nur umgeben von Sträuchern und Büschen." Es sind Sätze der Gefangenen von der DVD. "Wir kennen das Risiko einer militärischen Befreiungsaktion", heißt es weiter. "Wir wollen nicht in schwarzen Plastiksäcken zurückkommen, sondern lebend und in Frieden." Marleny Orjuela, unermüdliche Wortführerin der Vereinigung verschleppter Ordnungshüter, ruft das Motto der Interessengemeinschaft in ein Megaphon. Es steht auch auf Transparenten: "Ja zu einem humanitären Abkommen. Nein zur Rettung mit Feuer und Blut."

Armee-Einsätze sind der Albtraum der Betroffenen. Umso mehr, seitdem 2007 elf Abgeordnete in den Händen der Farc erschossen wurden, als das Militär anrückte. Die Guerilla hat den Befehl, bei Angriffen alle Gefangenen zu exekutieren. Ihr Anführer nennt sich Tirofijo, Sicherer Schuss. Vielleicht starben die Parlamentarier auch im Kreuzfeuer zwischen den Fronten, jedenfalls sind sie tot. Mütter wie Magdalena Rivas halten Verhandlungen für den einzig sicheren Ausweg. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, kurz Farc, regten einen Tausch an: 500 Guerilleros aus den staatlichen Gefängnissen gegen derzeit 40Politiker und Sicherheitskräfte aus ihren Lagern, in denen sie insgesamt bis zu 2000 Zivilisten und Offizielle festhalten. Zu diesem Faustpfand zählt vorneweg die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt, seit 2002 in den Fängen der Farc. Und ganz hinten ein einfacher Staatsdiener wie Elkin Hernández.

Doch für Gespräche verlangen die Aufständischen eine entmilitarisierte Zone, und die lehnt Präsident Uribe ab. Das Experiment sei unter seinem Vorgänger gescheitert und habe die Farc nur gestärkt, sagt er. Er will seine Erzfeinde besiegen, obwohl die trotz milliardenschwerer Militärhilfe aus Washington kaum zu bezwingen sind. Die 10000 bis 18000 Kämpfer der ältesten und größten Guerilla-Bewegung Lateinamerikas werden genährt von Hunderten Millionen Dollar aus Lösegeldern, Kokainhandel - und, laut kolumbianischer Vorwürfe, auch vom Ölgiganten Venezuela. Uribe dagegen wird Nähe zu rechtsextremen Todesschwadronen nachgesagt, und sein mächtigster Verbündeter sind die USA. Magdalena Rivas ist eine einfache Frau von Anfang 60, sie sagt: "Ich verstehe nichts von Politik. Ich will nur meinen Sohn. Und ich will nicht, dass er im Sarg zurückkommt."

Für die Mehrheit ist das Drama gewöhnlich kein Thema

Was haben sie und ihr Mann nicht alles versucht. Sie waren bei Politikern, Botschaften, der Kirche, Hilfsorganisationen. Bei ihnen dreht sich alles um dieses Martyrium, in Tausenden Familien bestimmt der Konflikt das Leben. Der Vater eines 1999 entführten Anwalts, selbst Jurist, ist verschuldet und vertraut statt der Diplomatie mittlerweile nur noch angeblichen Tränen einer hölzernen Christusfigur sowie dem Mutterinstinkt seiner Frau. Von seinem Erstgeborenen hat er seit neun Jahren nichts mehr gehört und glaubt dennoch, dass er lebt.

Der Vater eines gekidnappten Unteroffiziers wanderte aus Südkolumbien wochenlang bis nach Bogotá und später 1000 Kilometer bis nach Caracas, quer durch den Regenwald. Flog nach Europa, zum Papst. Kriegsversehrte Polizisten kämpften sich als Demonstration für ihre Kollegen in Rollstühlen aus Medellín bis in die Hauptstadt. Bei einem Marsch gingen Hunderttausende auf die Straße, an Häusern hängen Transparente, "Nein zur Entführung", steht darauf. Doch für die Mehrheit ist das Drama gewöhnlich kein Thema.

Wenn doch, dann bangt die Welt hauptsächlich um die Franko-Kolumbianerin Ingrid Betancourt. Der Venezolaner Chávez setzt sich für die vor sechs Jahren verschleppte Politikerin ein, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, eine Schar internationaler Solidaritätskomitees. Sie ist die Dame in diesem Schachspiel um Macht, Stolz, Geld. "Doña Ingrid", nennt sie Señora Rivas, und "Doctora"- Kolumbien ist eine ausgeprägte Klassengesellschaft. Fußvolk wie Elkin Hernández sind die Bauern. Bei den Kundgebungen auf der Plaza Bolívar bleibt kaum ein Passant stehen. Nur ein Hund kläfft, und ein Obdachloser schimpft. Zuweilen werden die Demonstranten sogar als Sympathisanten der Farc verunglimpft, weil sie sich für eine friedliche Lösung einsetzen. Was für ein Hohn. "Man hat uns die Tür zugeschlagen", sagt Magdalena Rivas. "Wir sind die unterste Kategorie." Präsident Uribe ist für sie so unmenschlich wie die Guerilla. Selbst der Außenminister hat sie enttäuscht, obwohl der erst kurz vor seiner Nominierung den Farc entkommen war. Die Katholikin zweifelt an sämtlichen Instanzen. "Mein Gott, hörst du uns?"

Das rettende Radio

Sie steht werktags um 4.30Uhr auf, weil dann eine Radiosendung beginnt. Und bleibt wegen einer anderen Sendung von Samstag auf Sonntag bis fünf Uhr früh wach. Wer trotz überlasteter Telefonleitungen in die Studios durchkommt, der kann kurze Botschaften hinterlassen, die vielleicht die Bastionen der Farc erreichen. Die Guerilla erlaubt ihren Häftlingen Transistorradios, um sie bei Laune zu halten. Frau Rivas und Hunderte Schicksalsgenossen geben täglich gute Wünsche durch oder erzählen Neuigkeiten. Der Journalist Herbín Hoyos erfand 1994 das Programm "Stimmen der Entführung", Voces del secuestro, und trat damit kürzlich auch bei Hugo Chávez in Venezuela auf. "Ich dachte, ich mache das zwei Jahre lang", sagt Hoyos in seinem Büro, "inzwischen sind es 14 Jahre." Seit 1996 wurden in seiner schaurig-schönen Heimat etwa 24000 Menschen von linken und rechten Banden und gewöhnlichen Kriminellen entführt, mehr als irgendwo sonst auf dem Planeten.

Auch ein damals unbekannter Unteroffizier hörte irgendwo im Buschversteck der Farc zu. "Das Radio hält dich am Leben", sagt John Frank Pinchao. Er sitzt im streng bewachten Hauptquartier seines Arbeitgebers Policia Nacional von Bogotá, in grünbrauner Uniform, das Namensschild rechts und die vergoldete Nummer 108038 links auf der Brust. Pinchao hat sein Abenteuer fürs Erste hinter sich, zu seiner Geschichte gehört sogar eine angebliche Begegnung mit einer tödlichen Riesenschlange. Ende April 2007 lief er den Farc davon, nachdem die ihn am 1.November 1998 erbeutet hatten. Er war ungefähr eine Woche flüchtig, da lieferten die wütenden Aufpasser den übrigen Lagerinsassen eine grausige Nachricht: Der Ausreißer sei von einer Anaconda erwürgt worden. Das mag in der Zivilisation albern klingen, doch damals hörte sich die Meldung offenbar echt an. Ein Zeuge erzählte, er habe damals mit der streng religiösen Ingrid Betancourt für den Toten gebetet. In Wirklichkeit kämpfte der sich durch den Dschungel.

Er sieht relativ gesund aus, nur müde. John Frank Pinchao gähnt, zwischendurch fallen ihm die wässrigen Augen zu. Sonst hat er diesen unverwandten Blick eines Menschen, den die Erinnerung verfolgt. Sein Buch "Mi fuga hacia la libertad" (Meine Flucht in die Freiheit), entstanden mit Unterstützung einer Freundin, ist ein Bestseller. "Meine Therapie", sagt er.

Immer der Sonne nach

Auf 239 Seiten beschreibt der Autor, wie sein Kontingent im Ort Mitú im südlichen Department Valdés überwältigt wurde. Wie die Farc die Überlebenden zu Fuß, auf Booten und in Jeeps durch den Regenwald trieben. Wie Ingrid Betancourt und weitere Politiker, Polizisten und drei US-Soldaten dazustießen. Wie Betancourts frühere Assistentin von einem Guerillero ein Kind namens Emmanuel bekam. Wie er, Pinchao, an Malaria und anderen Tropenkrankheiten litt, "jeder wird im Urwald krank" - Betancourt war auf dem letzten Video abgemagert und gezeichnet von Gelbsucht. Und vor allem berichtet er von seinem Coup. "Ich hatte andere Fluchtversuche studiert", sagt er. "Der Rest waren Menschenverstand und Wunder."

Ingrid Betancourt und ein später entlassener Begleiter hatten es vergeblich probiert. Entkräftet landeten die beiden nach fünf Tagen bei den Häschern, danach wurden auch sie angekettet. Pinchao trug von Anfang an eiserne Fesseln um den Hals, doch er löste sie nach langer Vorbereitung aus der Verankerung und überlistete die Wächter. 18 Tage dauerte seine Odyssee durch die Wildnis. Laut seinen Memoiren ernährte er sich unterwegs von Früchten, Palmherzen und dem fermentierten Mehl wilder Yuccawurzeln, das er in seinen Proviant geschmuggelt hatte. Er folgte der Sonne und der Strömung der Flüsse, als Nichtschwimmer hielt er sich mit einem Kanister über Wasser. Ein Jaguar jagte ihn auf einen Baum. Schließlich erreichte er ein Dorf mit Polizeistation. Seitdem wird er herumgereicht und verkündet, "die Camps der Farc sind wie Konzentrationslager der Nazis". Fragt man ihn, wie er all das überstanden habe, antwortet er mechanisch, dass ihm die Knie schmerzten und er traurig sei. "Weil ich meine Kameraden zurücklassen musste."

Er ist 34, zwei Jahre älter als Elkin Hernández. Sie haben sich nie getroffen, aber Magdalena Rivas hat John Frank Pinchao kennengelernt. Sie hält ihn für überheblich, seitdem er als Held präsentiert wird und mit seinen Erlebnissen kassiert, "allen geht es nur ums Geschäft". Sie bringt Kakao und Kekse, auf dem Bildschirm ist immer noch ihr Elkin zu sehen. Er bittet Präsident Uribe um Beistand, "auf dass unsere Worte Sie durch Ihre Tage begleiten und das Echo Ihrer Nächte sind". Er fleht die Medien an und das Ausland. "Wir brauchen Lärm zugunsten einer humanitären Lösung. Wir wollen nach Hause, zu unseren Familien, unser Leben neu organisieren." Dann ist die DVD vorbei, die Nichte holt sie aus dem Recorder. Ganz kurz läuft wieder der Fernseher, und dort ist zu sehen, was die meisten Kolumbianer wohl mehr interessiert: eine Seifenoper mit jungen, schönen Schauspielern.

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Quelle:
SZ vom 05.03.2008/grc
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