Süddeutsche Zeitung

Deutsche Einheit:Deutschland, Land der Risse, Land der Brüche

Lesezeit: 4 Min.

Die Teilung Deutschlands in Ost und West ist überwunden, eine Vielzahl gesellschaftlicher Spaltungen ist an ihre Stelle getreten. Sie reichen tief - und haben Zerstörungskraft.

Von Heribert Prantl

Als die alte deutsche Teilung zu Ende war, begann die neue. Die neue Teilung ist unübersichtlicher als die alte. Es ist nicht eine einzige Teilung, es sind ihrer viele. Der alte Riss trennte vierzig Jahre lang zwei unterschiedliche Staaten. Auf der einen Seite saß das Gute, auf der anderen das Schlechte; und was jeweils wo war, war eine Frage des jeweiligen Standorts.

Diese Spaltung wurde vor 26 Jahren behoben. Für Ostdeutsche änderte sich in der Folge alles außer den Jahreszeiten, für Westdeutsche änderte sich außer den Postleitzahlen zunächst wenig. Die frühere DDR wurde zum Veränderungsgebiet, die alte Bundesrepublik zum Nichtveränderungsgebiet. Es folgte die Teilung des Veränderungsgebiets in Aufschwung-Ost- und Niedergang-Ost-Gebiete; in solche, die blühen und solche, die veröden. Solche Gebiete gibt es heute in ganz Deutschland.

Heute geht nicht mehr ein einziger großer Riss durch Deutschland; die Risse von heute sind anderer Art. Sie verlaufen nicht scharfkantig von oben nach unten oder links nach rechts, sie trennen keine Gesellschaftssysteme voneinander. Es handelt sich um ein ganzes Netz von Rissen und Sprüngen; sie teilen und zerkrümeln Land und Gesellschaft. Da und dort gibt es Abplatzungen.

Es gibt, überall in Deutschland, Hunderttausende Menschen, die abgehängt sind oder sich so fühlen; nicht wenige lassen ihrem Hass auf die Welt freien Lauf. Es gibt Verlierer und Gewinner der Globalisierung. Es gibt eine neue soziale Spaltung, ein Dienstleistungsproletariat ohne Aufstiegschancen und mit geringer Bezahlung; es hat, anders als das alte Industrieproletariat, keine schlagkräftige Vertretung; es ist, wie dies der Soziologe Heinz Bude analysiert hat, weiblicher, ethnisch heterogener und qualifikatorisch diffuser.

Der Wohlstand ist keine Integrationsmaschinerie mehr

Es gibt eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, also immer weniger soziale Sicherheit, kein kontinuierliches Auskommen. Deutschland erlebt eine exorbitante Auseinanderentwicklung von Armut und Reichtum. Es ist dies eine Entwicklung, an die man sich schon fast fatalistisch gewöhnt hat, weil fast jede Woche eine Studie darüber erscheint. Die Einkommen driften in einem Tempo auseinander wie in keinem anderen Industriestaat.

Das Land ist ein Hort des Wohlstandes, aber er schließt die Nicht-Wohlhabenden aus; er ist nicht mehr Integrationsmaschinerie. Es gibt auch, viel zu wenig beachtet, eine IT-Spaltung in Deutschland; dreißig Prozent der Bürger leben offline; sie sind - zumal alte Menschen sind es - virtuell überfordert und deswegen real im Abseits.

Nervositäten und Gereiztheiten nehmen zu wegen des Gefühls, dass überall sozialer Abstieg lauert. In den Debatten über Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen steckt der Wunsch nach einer Obergrenze für die Probleme, denen man sich zu stellen hat. Es gibt eine hohe Zahl von geflüchteten Menschen in Deutschland und einen erbitterten, oft gehässigen Streit darüber, wie man mit den Folgen umgehen soll.

Die Auseinandersetzung zerreißt Gesellschaft und Parteien. Es gibt zum einen Verständnis und Engagement für Migranten, und es gibt zugleich die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität. Wenn man Umfragen liest, hat man das Gefühl, diese Spaltung geht nicht nur durch die Gesellschaft, sondern auch durch die Individuen; es scheint eine In-sich-Spaltung zu geben, ein Hin- und Her-gerissen-Sein zwischen Humanität und Abwehr. Mehr als die Hälfte der Deutschen hat Angst vor Ausländerfeindlichkeit, nicht einmal ein Drittel vor Überfremdung. Aber zugleich halten es nicht wenige mit dem US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der keine Muslime mehr ins Land lassen will.

Es gibt Teile der Gesellschaft, die absolut keine Vorteile in einer offenen Gesellschaft sehen wollen, die von einer ethnisch homogenen Nation schwärmen, eine aggressive Feindschaft gegen Migranten plakatieren und praktizieren. Radikale Elemente propagieren den Widerstand gegen "das System", das Flüchtlinge aufnimmt. Als vor einem Vierteljahrhundert der Kommunismus zusammengebrochen war, freuten sich viele auf eine entfeindete Demokratie. Es war dies eine Täuschung. Es entwickeln sich neue Feindschaften; sie entwickeln sich auch aus der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus. Dieses Feinddenken hat aber eine paranoide Tendenz.

Multipel gespalten, in Teilchen zerbröckelt

Die Gesellschaft ist multipel gespalten, sie ist in Teilchen zerbröckelt, wie man das von alten Autoscheiben kennt, durch die man dann kaum noch Sicht hatte. Als Krakelee ("craquelé" ist im Französischen das Wort für "rissig") bezeichnet man bei Ölgemälden oder Keramikglasuren das Netz von Rissen auf der Oberfläche; das kann altersbedingt sein. Es entsteht, wenn der Gegenstand starken Temperaturschwankungen ausgesetzt ist und der Untergrund sich ausdehnt oder zusammenzieht, die Farbe sich aber den Bewegungen des Untergrunds nicht anpassen kann. Bei Bildern kann man das lassen; da betrifft Krakelee nur die Oberfläche. Die multiplen Risse in der Gesellschaft aber gehen tief. Sie haben Zerstörungskraft. Staat und Gesellschaft müssen sich selbst restaurieren.

Da reicht es nicht, mit Pinsel und Tinkturen zu hantieren. Es geht um eine die Menschen wertschätzende Neu-Verhandlung von gesellschaftlichen Positionen. Es gilt, soziale Gleichheit zu verbessern und, zum Beispiel, den sozialen Berufen mehr Anerkennung zu geben. Es gilt, die Abwertung der Schwächeren (auch in Pflegeheimen) zu beenden. Eine Gesellschaft, die den Wert des Menschen nur mit dem Lineal der Ökonomie misst, ist unmenschlich.

Eine Politik, die den Verbitterten und den Selbstgerechten mit hemmungsloser Sprache recht gibt, ist gefährliche Politik. Die Politik muss aber ehrlich sein und nicht herumdrucksen, wenn es um die Kosten von Flüchtlingsaufnahme geht. Und es wird gut sein, die Eliten und Besserverdienenden wieder in die Solidargemeinschaft zurückzuholen, auch mit Mitteln der Steuer und einem Steuerspitzensatz, der so hoch liegt wie zu Helmut Kohls Zeiten. Die deutsche Demokratie muss zeigen, dass sie die Kraft hat, ihre Leitkultur zu revitalisieren. Die steht im Grundgesetz. Sie heißt sozialer Rechtsstaat.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2016
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