Süddeutsche Zeitung

D-Day vor 75 Jahren:"Beide Seiten haben es als Entscheidungsschlacht gesehen"

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Am 6. Juni 1944 landen die Truppen der Westalliierten an der Küste der Normandie. Die gewaltige Militäroperation ist der Auftakt zur Befreiung Frankreichs von Nazi-Deutschland. Historiker Peter Lieb über den Kampf am deutschen Atlantikwall.

Interview von Barbara Galaktionow

Es war der Auftakt zu einer der größten militärischen Operationen der Weltgeschichte: Am 6. Juni 1944 landen die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition am sogenannten D-Day an der Normandieküste. Hier durchbrechen sie die westliche Verteidigungslinie Nazi-Deutschlands, den massiv gesicherten Atlantikwall. 150 000 Soldaten sind dabei im Einsatz, in und auf Hunderten Flugzeugen und Kriegsschiffen sowie Tausenden Landungsbooten. Vor allem US-Amerikaner, Briten, Polen und Kanadier sind beteiligt.

Die SZ sprach mit Militärhistoriker Peter Lieb über die Überraschung der Deutschen, die schwierige Koordination der gewaltigen Operation und die Frage, ob der D-Day tatsächlich der Tag der Entscheidung im Zweiten Weltkrieg war. Lieb lehrt am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam und hat 2015 im C.H.Beck-Verlag das Buch "Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas" veröffentlicht.

SZ: Wie kam es überhaupt zur großangelegten Operation am sogenannten D-Day? Die Briten verfolgten ja ursprünglich eine ganz andere Strategie - sie wollten Nazi-Deutschland mit kleineren Angriffen im Mittelmeer zermürben.

Peter Lieb: Die Briten hatten zunächst Befürchtungen, dass so eine große Offensive wie die Landung in Frankreich auch zu großen Verlusten auf der eigenen Seite führen würden - und zu negativen Auswirkungen auf die eigene Bevölkerung. Die Amerikaner hingegen waren schon früh der Meinung, man müsse die Deutschen an der stärksten Stelle treffen - und so mit einem Schlag besiegen. Sie wollten schon 1942 in Westeuropa landen. Zunächst haben sich die Briten mit der Mittelmeerstrategie durchgesetzt. Erst als es damit nicht voranging, sind sie auf die Linie der Amerikaner eingeschwenkt.

Die deutsche Führung wusste, dass im Westen ein großer Angriff bevorstand. Warum war sie auf den D-Day dennoch nicht richtig vorbereitet?

Ende 1943 ist den Deutschen klar, dass die Alliierten in Westeuropa landen werden und dass sie sich darauf vorbereiten müssen. Der populärste deutsche Generalfeldmarschall Erwin Rommel wird sogar nach Frankreich versetzt. Er soll dort die Verteidigung stärken. Rommel setzt sehr stark auf den Bau des Atlantikwalls. Allerdings ist der Wall am 6. Juni 1944 weit davon entfernt, fertig zu sein. Hinzu kommt, dass die Deutschen nicht genau wissen, an welchem Ort die Alliierten angreifen werden - und zu welchem Zeitpunkt. Die deutsche Luftwaffe ist nicht mehr intakt und kann kaum Aufklärungsflüge über die britischen Inseln unternehmen. Die Deutschen müssen sich auf Wettervorhersagen verlassen. Für den 6. Juni sagen diese schlechtes Wetter voraus. Rommel fährt also nach Deutschland zum Geburtstag seiner Frau. Viele andere Generäle sind auf einer Kriegsübung in der Bretagne. Doch dann ergibt sich ein Gutwetterfenster. Genau in diesem Moment landen die Alliierten in der Normandie - und die Deutschen sind völlig überrascht.

War der Atlantikwall militärisch gesehen eigentlich eine Stärke oder eine Schwäche?

Das ist schon damals unter den Generälen eine große Frage gewesen. Der Atlantikwall hat natürlich unglaubliche Ressourcen verbraucht. Zudem war er ein relativ starres System, zwar schwer zu durchdringen - aber wenn man erst mal durch war, war man eben durch. Die meisten Generäle wollten daher lieber auf mobile Kriegsführung mit Panzern, Flankenangriffen und Bewegung setzen. Doch vor allem Rommel hat den Bau des Walls befördert. Er wusste von seinen Erfahrungen in Nordafrika, dass ein Operieren mit Panzern und Truppen schwierig war, weil die Alliierten die Luftherrschaft hatten. Letztlich hat sich niemand so ganz durchgesetzt. Hitler wollte das auch gar nicht, sondern hat - typisch für ihn - alles im Ungefähren belassen, nach dem Motto "Teile und herrsche".

Die Größe der Operation Overlord war gigantisch. Eine besondere Herausforderung stellte dabei die Koordination von Luftwaffe, Marineeinheiten und Landungstruppen dar. Wie lief das ab?

Bereits in den Wochen zuvor hatten die britische und amerikanische Luftwaffe das französische Hinterland bombardiert, um die deutschen Nachschubwege zu lähmen. Am D-Day selbst erfolgte zunächst ein Bombardement mit Schiffsartillerie auf die deutschen Bunkeranlagen, anschließend ein Luftbombardement - und erst dann landeten die Truppen. So war es geplant und so lief es auch an vier der fünf Strandabschnitte, wo die Alliierten angriffen. Doch am Omaha Beach, da funktionierte das Ganze nicht. Der Omaha Beach ist der bekannteste Abschnitt, dort landeten die Amerikaner, man kennt ihn auch durch den Film "Saving Private Ryan" mit Tom Hanks. Die Schiffsartillerie hatte dort nur wenig Wirkung - warum, weiß man nicht. Und als die Luftstreitkräfte über die Bunker flogen, lag eine Wolkendecke darüber. Da sie Angst hatten, ihre eigenen Landungstruppen zu bombardieren, warfen die Piloten die Bomben weit im Hinterland ab. Als die Soldaten anlandeten, sahen sie sich daher fast intakter deutscher Verteidigungsanlagen gegenüber.

Bereits in den ersten Minuten der Landung gab es Tausende Tote. Wäre ein Teil dieser Toten vermeidbar gewesen?

Die Alliierten sind in ihren Planungen für den D-Day von bis zu 10 000 Toten ausgegangen. In der Realität waren es immer noch sehr viele, aber doch deutlich weniger. Schätzungen sind schwierig, man geht davon aus, dass es am Omaha Beach etwa 2000 Tote auf Seiten der Alliierten gab, an den anderen Abschnitten deutlich weniger, jeweils einige Hundert. Die meisten Soldaten starben durch Artillerie und Mörser, also oft nicht durch direkte Schüsse, sondern durch Granatsplitter oder durch aufgesprengte Erde. Gefährlich waren auch Maschinengewehre in festen Stellungen, die konnten wie eine Sense den ganzen Strand "abmähen". Viele Soldaten sind auch ertrunken, sie wurden bei der Landung durch die Last des ganzen Gepäcks nach unten gezogen. Die Alliierten haben aber alles gemacht, um die eigenen Verluste möglichst gering zu halten. Das zeigt sich auch später, bei der Schlacht im Hinterland. Die Alliierten versuchen so vorzugehen, dass sie das Leben der eigenen Soldaten schützen - auch auf Kosten der französischen Zivilbevölkerung übrigens.

Wie erlebte die einheimische Bevölkerung die Eroberung des Gebiets?

Der Großteil der Franzosen hat natürlich darauf gewartet, befreit zu werden. Aber in der Normandie war das Verhältnis zwischen der Zivilbevölkerung und den alliierten Soldaten zunächst sehr kühl. Da waren zum einen die schon angesprochenen Bombardierungen und Zerstörungen; es starben ungefähr 19 000 Zivilisten während der gesamten Normandieschlacht. Zum anderen plünderten viele der Soldaten.

War den Alliierten der Sieg sicher?

Damals haben beide Seiten gedacht, dass der Ausgang ziemlich offen ist, auch wenn die Alliierten gewusst haben, dass sie einen gewissen Vorteil haben. Im Nachhinein lässt sich die Sache natürlich leichter analysieren: Danach gab es für die Deutschen aufgrund dieser unglaublichen Übermacht an Mann und Material kaum eine Möglichkeit, ihre Gegner zurückzuschlagen.

Wofür steht eigentlich genau die Bezeichnung D-Day? Ich habe da Unterschiedliches gelesen ...

Der D-Day ist der Decision Day, also der Entscheidungstag, manchmal heißt es auch Day Day. Letztlich ist es immer der Tag X, auf den hingeplant wird, der aber noch nicht terminiert ist. Decision Day erscheint mir am wahrscheinlichsten.

Und war der D-Day der Tag der Entscheidung? Wurde mit dem Sieg in der Normandie die Niederlage Deutschlands besiegelt?

Da muss man wieder den Blick der damaligen Zeit von dem heutigen unterscheiden. Damals haben es beide Seiten als Entscheidungsschlacht gesehen. Heutzutage wissen wir, der Krieg war vorher schon für die Deutschen verloren. Da waren Stalingrad und die hohen Verluste im Osten. Die Deutschen verloren an der Ostfront seit 1941 pro Tag 2000 Mann - durch Tod, schwere Verwundungen oder Gefangenschaft. Außerdem hatten die Deutschen den Krieg 1944 auch wirtschaftlich bereits verloren. Gerade das Rüstungspotenzial der Alliierten, insbesondere der Amerikaner - damit konnten die Deutschen einfach nicht mehr mithalten.

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