Süddeutsche Zeitung

Grenzschließung wegen Corona:Jedes Land ein Labor

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Mit der Schließung vieler Einrichtungen des öffentlichen Lebens wird sich Deutschlands Betriebssystem an diesem Montag grundlegend verändern. Zudem werden die Grenzen teilweise dicht gemacht. Damit stirbt eine große Idee.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Das Coronavirus entfaltet zweierlei Wirkung: Es macht Menschen krank, im schlimmsten Fall kann es zum Tode führen. Aber noch schneller als es sich im Land verbreitet, zerstört Covid-19 das Leben, das eben noch so selbstverständlich war. An diesem Montag wird sich das gesellschaftliche Betriebssystem Deutschlands grundlegend verändern - mit der Schließung vieler Einrichtungen des öffentlichen Lebens, allen voran der Schulen. Und auch an der Peripherie ändert sich Grundsätzliches, wenn die Bundespolizei am Morgen die Grenzen zu mehreren Staaten teilweise schließt.

Die Grenzkontrollen sind richtig, jedenfalls dann, wenn man als entscheidendes Kriterium für die Bewertung die Forderung anlegt, es müsse nun alles Denkbare getan werden - und der außergewöhnlichen Umstände wegen noch manches, was bisher undenkbar erschien. Jedes Land wird in der Bekämpfung des Virus mehr oder weniger sein eigenes Großlabor. Die Hoffnung hinter dem Schließen der Grenzen besteht darin, die Verbreitung des Virus, die schon im Land gleichermaßen schwer zu kalkulieren wie zu kontrollieren ist, nicht auch noch durch äußere Einflüsse zu verstärken.

Ein Staat wie Deutschland mit neun Nachbarländern ist dem Risiko zweifellos besonders ausgesetzt, dass Entwicklungen und Versäumnisse in anderen Staaten sich hier auswirken. Gemessen daran, hat man in Berlin noch recht lange mit dieser Entscheidung gewartet, nachdem andere EU-Staaten schon ihre Grenzen geschlossen hatten. Europa entwickelt sich allmählich zu lauter Wuhans, jener Stadt in China, in der die Seuche ihren Anfang nahm und die deswegen vollkommen abgeschottet wurde.

War da nicht was? 2015? Merkels Kritiker von damals werden nun jubilieren

Die soziale Distanzierung, die Virologen empfohlen und Politiker verordnet haben, sie wird nun ausgeweitet von Individuen auf Völker. Beispielhaft steht dafür das deutsch-französische Grenzgebiet, eigentlich Herzstück europäischer Integration. Weil aus einem Departement mit besonders vielen Infizierten wegen des Notstands in Frankreich viele Bürger zum Einkaufen nach Deutschland fahren, befürchten die Behörden hierzulande zusätzliche Ansteckungen. Der kleine Grenzverkehr ist binnen Tagen zu einem riesigen Problem geworden.

Die Grenzschließungen ergeben Sinn - trauern muss man trotzdem, in diesem Fall um den Tod einer Idee. Die Vorstellung eines europäischen Zusammenhalts, einer konzertierten Aktion innerhalb der Union mit Austausch von Material und Personal, sie hat sich als Illusion erwiesen. Aber wenn man ehrlich ist, nicht erst in der Bekämpfung dieses Virus, sondern schon lange vorher. Nur werden die Auswirkungen dieses Scheiterns jetzt besonders deutlich. In einer so existenziellen Lage wie der Corona-Krise gilt eindeutiger denn je: Solange es nationale Regierungen gibt, fühlen sie sich als erstes ihren Bürgern verpflichtet - und die Bürger erwarten das auch zu Recht, solange es keine Alternative gibt.

Grenzschließungen - war da nicht was? 2015 hat man darüber schon einmal diskutiert, als der Flüchtlingsstrom anschwoll. Damals weigerte sich Angela Merkel, Grenzen zu schließen - aus humanitären Gründen, und weil sie es für nicht machbar hielt. Ihre Kritiker von damals werden nun jubilieren. Und sie werden nicht unterscheiden wollen zwischen Menschen, die Hilfe brauchten, und Viren, gegen die man Schutz braucht.

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Quelle:
SZ vom 16.03.2020
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