Süddeutsche Zeitung

Chile:Das neoliberale Korsett sprengen

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Fast genau ein Jahr nach dem Beginn der Groß-Demonstrationen gipfelt der Volksaufstand nun in einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Nicole Kramm Caifal erinnert sich noch, wie alles begann. Es war der 17. Oktober 2019, Kramm saß gerade in einer Fotografie-Klasse in Santiago. Richtig bei der Sache aber war sie nicht. Über ihr Handy flimmerten Bilder und Videos, gedreht in den Metro-Stationen von Chiles Hauptstadt. Hunderte Menschen sprangen dort über die Drehkreuze, Jugendliche, Erwachsene, selbst brave Senioren. Kaum war ihr Kurs vorbei, lief die 30-Jährige zur nächsten U-Bahnstation. "Die Stimmung war unbeschreiblich", sagt Kramm und dass ihr sofort klar war, dass die Aktion zwar als Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung begonnen hatte, es längst aber um viel mehr ging.

Tatsächlich: Bald sangen Hunderttausende Menschen im ganzen Land "Chile despertó", Chile ist aufgewacht. Aus einem kleinen Aufstand wurde eine Massenbewegung gegen strukturelle Ungleichheit, aus einer Protestaktion gegen teure Metro-Tickets eine Systemfrage.

Fast genau ein Jahr nach dem Beginn der Demonstrationen gipfelt der Volksaufstand nun in einer Volksabstimmung. Am Sonntag stimmen die Chilenen darüber ab, ob sie sich eine neue Verfassung geben wollen, um damit die abzulösen, die dem Land einst von der Militärdiktatur verpasst worden war und die Chile in ein Versuchslabor des radikalen Neoliberalismus verwandelte.

Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 blieb die Verfassung bestehen, gleichzeitig blieben das Rentensystem, Gesundheit, Bildung und selbst Wasserversorgung in privater Hand. Alle Versuche, das zu ändern, scheiterten, die Verfassung wirkte wie ein Korsett, das zwar eine gute Figur machte, den Menschen aber die Luft abschnürte.

Chiles Wirtschaft wuchs konstant, mit ihr aber auch die Ungleichheit. Viele Chilenen sind heute hoch verschuldet und arbeiten gleichzeitig in prekären Jobs. All das, sagt Nicole Klamm, brach sich damals, im Oktober 2019 Bahn. "Die Menschen hatten es satt, erniedrigt zu werden", sagt sie. Wenn am Sonntag die Chilenen über die Schaffung einer neuen Verfassung abstimmen, ist das auch ein Sieg für die Demonstranten. Dieser ist aber auch teuer errungen.

Chiles Regierung reagierte auf die Proteste im Oktober mit harter Hand. Gepanzerte Polizisten prügelten auf Demonstranten ein, die Stimmung kippte, bald brannten Metrostationen und Supermärkte wurden geplündert. Das Land befinde sich in einem Krieg, erklärte Sebastián Piñera, Chiles konservativer und millionenschwerer Präsident. Die Regierung schickte sogar Soldaten auf die Straßen, ein Affront, und am Ende wurden die Proteste nur noch größer und die Auseinandersetzungen nur noch heftiger. Demonstranten zündeten Polizisten an, diese wiederum mischten ätzende Chemikalien in die Tanks der Wasserwerfer und Metallkugeln unter Gummigeschosse. Immer wieder zielten sie damit wohl auch auf Gesichter und Augen von Demonstranten.

Nicole Kramm spricht nicht gern über jenen 31. Dezember 2019. Zu schmerzhaft, körperlich und seelisch. Kramm und ein paar Kollegen waren damals im Zentrum Santiagos unterwegs, um Fotos zu machen bei den Protesten und zu filmen. "Wir hatten Kameras und Mikrofone dabei", sagt sie. "Unmöglich, dass die Polizei das nicht gesehen hat." Und dennoch: ein Knall, ein brennender Schmerz im linken Auge, Kramm sinkt zu Boden. Im Krankenhaus wissen die Ärzte schon, was los ist. Mehr als 450 Patienten mit teils schweren Augenverletzungen wurden seit Beginn der Proteste dokumentiert. Längst haben sich die Vereinten Nationen wegen Menschenrechtsverletzungen eingeschaltet. Erst jetzt, neun Monate später, stellt sich Kramms Sehkraft wieder her.

Während Kramm behandelt wurde, gingen die Proteste weiter. Auch ein Verfassungsreferendum, das Regierungs- und Oppositionsparteien schon Mitte November beschlossen hatten, konnte sie nicht stoppen. Erst als im März das Coronavirus auch nach Chile gelangte, kamen die Demonstrationen zum Erliegen.

Die Regierung verhängte abermals eine Ausgangssperre, und erst schien es so, als ob sie das Virus schnell unter Kontrolle bringen könnte. Dann aber wird Chile zu einem der am schwersten von dem Erreger getroffenen Land der ganzen Region. Viele Menschen mit prekären Jobs stehen wegen Ausgangssperren vor dem Nichts. "Die Pandemie hat noch mal mehr gezeigt, was in diesem Land alles falsch läuft", sagt Kramm.

Umfragen sagen voraus, dass die Mehrheit der Chilenen am Sonntag für eine Verfassungsänderung stimmen wird. Wie diese ausgearbeitet werden soll, ist aber noch unklar. Eine Möglichkeit, über die auch abgestimmt wird, ist eine verfassungsgebende Versammlung, die andere ein Konvent, in dem auch Parteien vertreten sind, die den alten Eliten so mehr Einfluss bieten würde.

Die Verfassung, sagt Kramm, sei eine Chance, aber auch eine Gefahr. "Die Regierung will uns glauben machen, dass wir mitbestimmen dürfen", sagt sie. "Am Ende wird sie aber alles versuchen, um ihre Macht zu sichern." Am Sonntag werde sie zwar für eine Verfassungsänderung stimmen, gleichzeitig aber auch weiter zu den Protesten gehen. Das Referendum sei kein Ende, sagt Kramm, sondern ein Anfang.

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