Süddeutsche Zeitung

Bundespräsident:Vom Recht, kaputt zu sein

Lesezeit: 3 min

Der Bundespräsident spricht mit Beschäftigten im Gesundheitswesen, die in Sachsen gegen die Pandemie kämpfen. Über Bürgernähe aus der Ferne - und eine Frage, auf die auch Frank-Walter Steinmeier keine Antwort bekommt.

Von Henrike Roßbach, Berlin

In Verbindung zu bleiben ist zum Kunststück geworden, seit Kontaktbeschränkung und Rachenabstrich hierzulande zum Grundwortschatz gehören. Auch Politiker müssen sich regelmäßig herumschlagen mit Verbindungsproblemen, menschlichen wie technischen - sogar ein Staatsoberhaupt. Frank-Walter Steinmeiers bundespräsidialer Kalender jedenfalls ist auch in Seuchenzeiten gut gefüllt mit bürgernahen Terminen aus der Ferne.

Zum Beispiel am Donnerstag. Steinmeier ist zum "Regionalgespräch" verabredet, er im Schloss Bellevue, seine Gesprächspartner in der Region, in diesem Fall: Sachsen. Elf Uhr ist es, als eine Pflegedienstleiterin, der Geschäftsführer eines Pflegeunternehmens, ein Chefarzt, eine Hausärztin, ein Bestatter und ein Bundespräsident im Livestream auftauchen. Ob jetzt wirklich jeder jeden hören kann, ist schnell geklärt, doch auch in den folgenden gut 70 Minuten wird es noch viel ums Verstehen gehen.

"Sie können ganz entspannt sein", sagt Steinmeier zum Auftakt. Er möchte wissen, wie es gelaufen ist in den vergangenen Monaten - in Sachsen, wo die Pandemie zuletzt besonders gewütet hat. "Wir haben erreicht, was wir erreichen wollten", sagt Jana Scholz, Hausärztin aus Pirna, "wir haben Leben und Gesundheit geschützt und vermieden, dass das Gesundheitswesen überlastet ist." Dann aber kommt sie zu den Kollateralschäden. Vor allem die Familien hätten Großartiges geleistet, sagt sie, jetzt aber seien sie "am Ende". Sie berichtet von Schlafstörungen und Aggressionen. "Ich sage ihnen dann, dass sie ein Recht darauf haben, jetzt kaputt gespielt zu sein."

Triage habe es nicht gegeben, sagt der Chefarzt, aber auch heute noch sei seine Station überlastet

Um das, was kaputt geht in dieser Pandemie, geht es auch Radovan Novák, Chefarzt für Anästhesie und Intensivmedizin im Zittauer Klinikum. Was ihn kaputt mache, sagt er, sei die Tatsache, dass die Qualität, die sie seit Jahren aufgebaut hätten, so jetzt nicht mehr gegeben sei. Sie hätten Kräfte der Bundeswehr dazuholen müssen, Mitarbeiter von anderen Stationen, die noch nie am Beatmungsgerät gearbeitet hätten. "Aber anders ging es nicht." Triage habe es nicht gegeben, aber auch heute noch sei seine Station überlastet.

Tobias Wenzel, Bestatter aus Marienberg, erzählt, wie schwer es für die Angehörigen sei, wenn sie sich nicht würdevoll verabschieden könnten. "Das ein wichtiger Teil der Trauerarbeit." Ina Eger, Pflegedienstleiterin der Klinik in Werdau, berichtet von Schutzausrüstung, die sie in der ersten Welle mehrfach verwendet hätten, obwohl es Einmalprodukte waren. Ein "heilloses Durcheinander" sei die Zusammenarbeit mit den Behörden damals gewesen, in der zweiten Welle sei es dagegen viel besser gelaufen.

Steinmeier, weiße Blumen auf dem Schreibtisch, die Fahne mit dem Bundesadler im Hintergrund, fragt nach. Manchmal, weil die Leitung knackt, öfter aber, weil er es genauer wissen will. Auf eine Frage jedoch bekommt er keine Antwort. Warum ausgerechnet in Sachsen so viele Gegner der Corona-Maßnahmen auf die Straßen gegangen seien, will er wissen. Es wird still auf dem Bildschirm. Dann wird die AfD erwähnt, die dort fische, wo Unzufriedenheit herrsche. Die Sorgen der Ladenbesitzer, Gastwirte und kleinen Unternehmen werden angesprochen. Letztlich aber herrscht Ratlosigkeit. "Ich habe keine Erklärung, nein", sagt Hausärztin Scholz.

Ihre Lehre aus der Pandemie? "Dass man den Staatsbediensteten auf die Füße tritt", sagt die Hausärztin

Den größeren Klärungsbedarf sehen Steinmeiers Gesprächspartner aber ohnehin anderswo. Warum kann eine Hausärztin keine Quarantäne anordnen, obwohl es Tage dauert, bis das Gesundheitsamt entscheidet? Warum hat eine Klinik ständig einen neuen Ansprechpartner bei den Behörden? Wie kann es sein, dass die Mitarbeiter eines Bestatters ihre Kinder nicht in die Notbetreuung geben können, weil sie selbst nicht auf der Liste systemrelevanter Berufe stehen? Warum wurden die Gesundheitsämter jahrelang beim Personalaufbau vernachlässigt? Und warum fehlt beim Impftermin plötzlich der Arzt? Wie anstrengend die Pandemiebekämpfung ist, versendet sich auch im Livestream nicht.

Was ihre Lehre sei aus elf Monaten Corona, fragt der Bundespräsident am Ende noch. Dass man die schätzen solle, die "das Land am Laufen halten", sagt Hausärztin Scholz, "und dass man den Staatsbediensteten auf die Füße tritt". Sie etwa habe kein Verständnis, wenn die Digitalisierung der Schulen nicht funktioniere. Bestatter Wenzel will ein Ende des behördlichen Kompetenzgerangels, Chefarzt Novák mehr Wertschätzung für kleinere Krankenhäuser ("Die haben das Land gerettet"), Pflegedienstleiterin Eger weniger Abhängigkeit von China, wenn es um medizinische Schutzausrüstung geht. Patrick Hahmann, Geschäftsführer eines Pflegeunternehmens aus Radeberg, wünscht sich "eine ehrliche mittel- und langfristige Perspektive" für die Rückkehr in die Normalität.

Und Steinmeier? Bedankt sich und sagt, dass man auch in Zukunft nicht vergessen solle, "wie sehr wir als Menschen aufeinander angewiesen sind". Dann ist der Bildschirm leer.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5210719
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.