Süddeutsche Zeitung

Buch von Peer Steinbrück:Ganz große Brocken

Lesezeit: 3 min

Typisch Peer Steinbrück, sagen nicht nur die SPD-Genossen. "Das Elend der Sozialdemokratie" heißt sein Beitrag zum Groko-Start. Die Analyse trifft - die Idee für den Weg aus der Krise eher weniger.

Rezension von Hans Werner Kilz

Der Sozialdemokrat Peer Steinbrück hat eine Eigenschaft, die es ihm als Politiker erschwert, erfolgreich zu sein. Er macht sich, ob gewollt oder ungewollt, gerne unbeliebt. Das zieht sich durch sein Politikerleben, erklärt seine Wahlniederlagen und die mangelnde Popularität in der eigenen Partei.

An diesem Image arbeitet er auch nach seinem Ausscheiden aus der Politik. Steinbrück hat ein Buch geschrieben, das viele in der SPD - gerade zu diesem Zeitpunkt - verärgern wird: "Das Elend der Sozialdemokratie. Anmerkungen eines Genossen".

Dabei wäre allen anderen 463 722 Genossen zu empfehlen, die Streitschrift aufmerksam zu lesen. Denn Steinbrücks Analyse legt schonungslos offen, warum die SPD ihre potenziellen Wähler nicht mehr erreicht, warum sie nicht mehr als "avantgardistisch und fortschrittlich, sondern eher als altbacken und strukturkonservativ gilt".

Die SPD sei "überaltert - buchstäblich und habituell", ihre Funktionärselite liege wie Mehltau über dem notwendigen Erneuerungsprozess und vergräme "junge Leute ebenso wie Quereinsteiger". Vor allem die Parteizentrale in Berlin, das Willy-Brandt-Haus, bedürfe einer "gründlichen Renovierung". Wo Stallgeruch zählt, bemerkt er bitter, ist Zugluft unerwünscht.

Wer aber - außer Peer Steinbrück - hätte mehr Grund und auch mehr Berechtigung, solche harschen Sätze zu schreiben? Zum einen gehört er, wie einst Peter Glotz, zu den wenigen Politikern, die ihre Bücher selber schreiben, weil sie über das intellektuelle Potenzial und die Formulierungsgabe verfügen. Und er hat als Kanzlerkandidat 2013 erlebt, wie ihm die Partei die erbetene "Beinfreiheit" verwehrte, ihm stattdessen nur Knüppel zwischen die Beine warf.

Trotzdem holte er mit 25,7 Prozentpunkten noch ein besseres Ergebnis als Frank-Walter Steinmeier vier Jahre zuvor (23,0 Prozent) und Martin Schulz vier Jahre danach (20,5 Prozent). Aber abgesehen von eigenen Unbedachtheiten - Stinkefinger ( den er im SZ-Magazin zeigte) und zu hohe Vortragshonorare (die er von armen SPD-regierten Städten verlangte) -, die sein Ansehen ramponierten, kämpfte Steinbrück 2013 auch gegen eine noch unumstrittene Kanzlerin, deren Ansehen erst durch ihre Flüchtlingspolitik und ein zerbröselndes Europa erschüttert wurde.

Das Bedrückende an Steinbrücks Zustandsbeschreibung der SPD ist, wie wenig die Partei aus ihren Wahlniederlagen gelernt hat, obwohl sie seit Schröders Sieg 1998 mehr als zehn Millionen Wähler verloren hat.

Über eine SPD, die sich immer nur als "Korrektiv sozialer Schieflagen" begreift und dabei Facharbeiter tragender Wirtschaftsbranchen, Mittelständler, junge Start-up-Unternehmer oder auch berufstätige Frauen vernachlässigt, klagt Steinbrück seit Jahren, weil sie für Wähler der Mitte ihre Attraktivität verliert und jeder SPD-Kandidat lächerlich wirkt, wenn er sagt, er wolle Kanzler werden, weil es auch mit den Stimmen der Grünen und Linken nicht mehr reicht, um eine Regierung zu bilden.

Steinbrücks Programm würde auch zu Merkel passen

Statt immer nur die Floskel von der sozialen Gerechtigkeit zu bemühen, wie es Martin Schulz ermüdend vorgetragen hat, fehlt es der SPD nach Meinung Steinbrücks an "faszinierenden Botschaften", die "eine Eigendynamik hätten entfalten können". Er nennt drei große Themen, auf die sich die Partei hätte beschränken sollen: Europa, Freiheit im digitalen Kapitalismus und Zusammenhalt der Gesellschaft.

Diesen Zusammenhalt, so sehen es viele in der SPD, hat Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 unterminiert. Und die politische Rendite hat Angela Merkel eingeheimst, die als damalige Oppositionsführerin der Union diese Reformpolitik in der parlamentarischen Beratung 2003 noch abgelehnt hatte.

Die SPD hat die abtrünnigen Wähler nicht wieder zurückholen können. Steinbrück schon gar nicht, weil er sich ausdrücklich zu Schröders Reformpolitik bekennt und der SPD rät, ihre "Selbsttraumatisierung aus der Agenda-Politik" 14 Jahre nach deren Verabschiedung endlich zu überwinden.

Ein Szenario, wie das gelingen könnte, entwirft er auch, wird ihm aber den Vorwurf, ein Ober-Schlaumeier zu sein, nicht ersparen. Es liest sich wie ein kräftiges Sowohl-als-auch, von Steinbrück etwas überhöht als "Neuer dritter Weg" gepriesen.

In Wahrheit aber will er, dass sich die SPD von Rechts-links-Denkmustern, von Flügelkämpfen und Chefideologen verabschiedet.

Wie soll der Wunschtraum in Erfüllung gehen? Indem alles gleichzeitig gelingt: Wirtschaft und Wachstum zur Wohlstandssicherung und die notwendige Zähmung des digitalen und Finanzkapitalismus; freier Welthandel und faire Handelsbeziehungen; die Digitalisierung fördern, dabei Individualrechte, Meinungsfreiheit und Transparenz sichern; Leistungsgesellschaft fördern und den Sozialstaat bewahren; Eliten fördern und Kindern aus bildungsfernen Schichten die Chancen zum Aufstieg ermöglichen; ein robustes Sozialversicherungssystem und zugleich mehr Eigenvorsorge.

Aber was daran ist typisch sozialdemokratisch? Dieses Programm könnte auch Angela Merkel buchen.

Die falschen Kandidaten nominiert

Einen Grund, warum die SPD seit zwei Jahrzehnten nicht mehr das Kanzleramt besetzt, spart Steinbrück aus: Sie nominiert die falschen Kandidaten - allerdings aus einem einleuchtenden Grund: Sie hat sie einfach nicht.

Willy Brandt, Helmut Schmidt, auch Gerhard Schröder, hatten Charisma, wurden von liberalen Wechselwählern und von Frauen gewählt. Steinmeier war zu langweilig, Steinbrück zu schroff, Schulz zu betulich; und so attraktiv wie ihre drei Vorgänger waren sie alle nicht.

"Wir bräuchten mal einen wie diesen Kanadier Justin Trudeau", hat Ex-Innenminister Otto Schily kürzlich gesagt. Der passende Kandidat (oder die Kandidatin) könnte unter denen sein, die erst in den vergangenen Monaten in die Sozialdemokratische Partei eingetreten sind. Sie konnten zwar nicht verhindern, dass die staatstragende, pragmatische Mehrheit der Partei sich wieder für eine große Koalition entschied, was für die SPD im Moment das Beste war.

Aber langfristig, wenn sich die SPD wieder zu einer linken, weltläufigen Volkspartei entwickeln will, die demokratischen Sozialismus und soziale Marktwirtschaft zu vereinen weiß, muss sie auch jene einbinden, die jetzt gegen die Groko kämpften, weil sie spürten, dass sie das Elend der Sozialdemokratie nur noch verschlimmert.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2018
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