Süddeutsche Zeitung

Biografie:Überleben, um zu schreiben

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H. G. Adler gehörte zu den Pionieren der Holocaust-Forscher. Peter Filkins hat den Lyriker, Schriftsteller und Autor des Standardwerks über das Lager Theresienstadt einfühlsam porträtiert.

Von René Schlott

Es gehört zu den Kennzeichen der frühen Holocaustforschung, dass ihre Pioniere fast ausnahmslos jüdische Überlebende waren, von denen viele heute vergessen sind. Auch der Name H. G. Adler ist sicher nur wenigen Spezialisten bekannt, obwohl er der Autor von zwei für die Geschichtsschreibung des Judenmordes einflussreichen Standardwerken ist.

Ihm widmet Peter Filkins, Professor für Literatur am Bard College in Simon's Rock, Massachusetts, und Übersetzer von Adlers Werken ins Englische, eine dichte biografische Studie. Filkins verhehlt seine Sympathie vor allem für den Poeten Adler nicht, der schon als Jugendlicher begann, Gedichte zu schreiben. In einem seiner frühen Werke ("Anders bin ich", 1934) schrieb Adler über sich selbst: "Ich lebe in vielen Welten." Filkins nutzt die Metapher für den Titel seiner Biografie, die Adlers "Welten" eindrucksvoll entfaltet und in ihm den Überlebenden, den Gelehrten, den Literaten, den Briefeschreiber, den Fotografen, aber auch den Freund, den Ehemann und Vater entdeckt.

Hans Günther Adler wird 1910 in Prag in eine jüdische Familie geboren und wächst mit der deutschen und tschechischen Sprache auf. Er studiert Musik, Literatur, Psychologie und Philosophie und wird 1935 mit einer Doktorarbeit zum deutschen Aufklärer und Literaten Friedrich Klopstock promoviert. Als die deutsche Wehrmacht im März 1939 in Prag einmarschiert, versucht Adler erfolglos, ins Ausland zu flüchten. Im Februar 1942 wird er zusammen mit seiner Ehefrau Gertrud nach Theresienstadt deportiert. Dort entschließt er sich später, ein Buch über das Lager zu schreiben, beginnt Material zu sammeln und Aufzeichnungen zu machen. Bevor er im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert wird, bittet er Leo Baeck, Mitglied des jüdischen Ältestenrates, seine Texte im Tresor des Ghettos aufzubewahren. Die Papiere überstehen den Krieg in einer schwarzen Aktentasche (die sich heute in Adlers Nachlass im Literaturarchiv Marbach befindet) und gelangen später wieder in Adlers Hände.

In Auschwitz werden Adlers Frau und deren Mutter sofort nach der Ankunft ermordet. Adler selbst erhält die Häftlingsuniform eines tschechischen Kommunisten, die er bis zu seiner Befreiung behält. Das rote Dreieck mit dem "T" für Tscheche rettet ihm wahrscheinlich das Leben. Einen "Judenstern" wird er nie wieder tragen. Adler ist zwei Wochen in Auschwitz interniert, bevor er nach Niederorschel, ein Nebenlager des KZ Buchenwald, deportiert wird. Wie schon in Theresienstadt schreibt er auch hier Gedichte, die er in einer Aluminiumbox aufbewahrt, die später einen Platz auf seinem Londoner Schreibtisch findet. Mitte Februar 1945 wird Adler in das Außenlager Langenstein-Zwieberge verschleppt, wo die Häftlinge gezwungen werden, eine unterirdische Waffenfabrik in einen Stollen zu treiben. Adler wird hier als Lagerschreiber eingesetzt, was ihm Zugang zu Papier und Schreibmaschine verschafft.

Adlers "opus magnum" heißt "Der verwaltete Mensch"

Nach der Befreiung Anfang April tauscht er seine Lagerkleidung gegen eine deutsche, von NS-Symbolen befreite Soldatenuniform. Adler lebt einige Wochen in Halberstadt, bevor er sich im Juni 1945 nach Prag aufmacht, um nach seiner Frau zu suchen. Zwei Tage nach seiner Rückkehr schreibt er nach sechsjähriger Zwangspause an seinen Jugendfreund, den Lyriker Franz Baermann Steiner: "als Einziger meiner und meiner Frau Familie habe ich diesen schrecklichsten Traum überlebt, dem leider auch meine Frau zum Opfer gefallen ist". Adlers Eltern waren in Kulmhof und in Maly Trostenez ermordet worden. "Ich empfinde Leere und unglaubliche Traurigkeit."

Nach Kriegsende verzichtet Adler auf die Ausschreibung seines Vornamens, weil er ihn an den SS-Mann Hans Günther (1910 - 1945) erinnerte, Nachfolger von Adolf Eichmann als Leiter der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" in Prag. Er beginnt in einem tschechischen Waisenhaus als Erzieher zu arbeiten, in dem jüdische, sudetendeutsche, polnische und tschechische Kinder gemeinsam leben. 1947 emigriert Adler nach Großbritannien, wo er Bettina Gross, eine Jugendfreundin, heiratet. Im selben Jahr wird Sohn Jeremy geboren, der später selbst Dichter und Professor für Deutsche Sprache am King's College London werden sollte. Adler lebt zu der Zeit von kleineren Arbeiten für die BBC und die Wiener Library, vor allem aber von den Erlösen, die die vor der Verfolgung nach Großbritannien gerettete Briefmarkensammlung seines Vaters abwirft.

Mit ungeheurer Energie und beeindruckender Produktivität stürzt er sich ins Schreiben und schafft bis zu seinem Tod 1988 in London Hunderte Gedichte, zahlreiche Novellen, Kurzgeschichten und Romane, aber auch wissenschaftliche Monografien. Filkins interpretiert Adlers umfangreiches Œuvre, in dem er immer wieder auf seine Lagererfahrungen rekurriert, als ein "Gesamtkunstwerk" (Jürgen Serke). 1955 erscheint nach jahrelanger Vorarbeit und Verlagssuche Adlers bahnbrechende Studie "Theresienstadt 1941 - 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft", eine Soziologie des Lagers und eine Psychologie seiner Insassen. Ähnlich wie später Raul Hilberg beleuchtet Adler darin die Rolle der Judenräte kritisch. Mit Hilberg teilt Adler auch die Fokussierung auf die Administration der Vernichtung, die in einem bürokratischen Prozess das menschliche Subjekt zu einem nummerierten Objekt entwürdigte - so der Tenor seines 1974 erschienenen Opus magnum "Der verwaltete Mensch".

Doch Adler schreibt nicht nur Geschichte, sein Werk avanciert selbst zur Geschichtsphilosophie, wie Filkins spannende und lesenswerte Biografie deutlich macht. Am Schluss seines Theresienstadt-Buches schreibt Adler: "Nichts aus der Geschichte lernen steht als traurige Erkenntnis dafür da, daß wir nicht genügend lernen, aber alles, was die Menschheit je gelernt hat, verdankt sie ausschließlich der Geschichte (...) Der Mensch ist alles in seiner Geschichte."

René Schlott ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam.

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SZ vom 27.04.2020
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