Süddeutsche Zeitung

Geiselnahme in Beslan:Noch immer Albträume

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Vor 15 Jahren überfielen Extremisten eine Schule in Südrussland. Eine ehemalige Geisel erzählt von dem dreitägigen Terror. Sie hat noch Fragen, auf die es wohl keine Antworten mehr geben wird.

Von Silke Bigalke, Moskau

Am zweiten Tag der Geiselnahme brachten die Terroristen einen Fernseher in die Turnhalle. Sie schalteten ein, es liefen Berichte über den Anschlag auf die Schule in Beslan, bei dem sie selber die Täter waren. Mehr als 1100 Kinder, Lehrer und Eltern hatten sie in die Halle gepfercht, nun zwangen sie sie, mit ihnen Nachrichten zu sehen. Genau durchgezählt hatten sie sicher nicht. Dennoch war klar: Die Geiselnehmer hatten viel mehr Menschen in ihrer Gewalt, als der russische Staat damals zugab.

"Im Fernsehen wurde gesagt, dass nur 350 Menschen im Saal sind", sagt Bela Gubijewa, die damals 13 Jahre alt war und mit ihrem jüngeren Bruder auf dem Hallenboden hockte. Die Terroristen wurden böse. "Habt ihr gehört", rief einer. "Nur 350 Menschen. Wir erschießen jetzt die Hälfte."

Rebellen aus Tschetschenien und Inguschetien haben vor 15 Jahren die Schule Eins in der nordossetischen Kleinstadt Beslan überfallen. Es war der 1. September, der erste Schultag, viele Kinder waren daher mit ihren Eltern gekommen. Bela Gubijewa, die die siebte Klasse beginnen sollte, ging mit ihrem Bruder und den Nachbarskindern. Als sich alle für den feierlichen Beginn des Schuljahrs draußen versammelt hatten, fielen die ersten Schüsse. Die Terroristen forderten von Moskau, russische Truppen aus Tschetschenien abzuziehen und tschetschenische Rebellen freizulassen. 334 Menschen haben die Geiselnahme nicht überlebt, unter ihnen 186 Kinder.

Bela Gubijewa sitzt in einem Moskauer Café und spricht so ausführlich über diese drei Tage, dass man nur ahnen kann, wie viel Raum sie in ihrer Erinnerung einnehmen. Sie erzählt von dem Lehrer, den einer der Terroristen gleich zu Beginn erschoss, um für Ruhe zu sorgen. Sein Gesicht wurde schlagartig weiß, bevor er wie ein Sack zu Boden sank. Sie erzählt von der ersten Nacht, als sie sich wegen der Enge nicht hinlegen konnte, den Kopf des Bruders auf ihrem Schoß. Am zweiten Tag ließen die Geiselnehmer Mütter mit Babys gehen. Doch viele hatten ihre älteren Kinder zur Schule gebracht und wollten diese nicht allein lassen. Also drückten sie ihre Säuglinge anderen Frauen in den Arm, um sie in Sicherheit bringen, erzählt Gubijewa.

Vor allem erinnert sie sich an den Durst. In der engen Halle gab es kein Wasser, keinen Luftzug, denn die Fenster waren abhängt. Anfangs durften kleine Gruppen Kinder auf die Toilette. Ein Arzt unter den Gefangenen riet ihnen, dabei ihre Kleidung nass zu machen, um ein wenig Wasser mitzubringen. Später zerstörten die Terroristen die Wasserleitungen. Sollte ein Handy klingeln, drohten sie 50 Geiseln zu erschießen. Falls einer der Geiselnehmer angeschossen würde, auch 50. "Wir haben begriffen, was das heißt", sagt Gubijewa. "Aber was konnten wir tun?"

"Ich habe aufgehört, jemanden zu beschuldigen", sagt Bela Gubijewa, die jetzt in Moskau lebt

Hinterbliebene und Opfergruppen warfen dem Staat später schwere Versäumnisse vor, 2017 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihnen recht. Die Behörden hatten trotz Vorzeichen zu wenig unternommen, um einen Anschlag zu verhindern. Dann waren die Einsatzkräfte scheinbar unkoordiniert und so gewaltsam gegen die Terroristen vorgegangen, dass sie das Leben der Geiseln riskierten. Sie griffen mit Sturmgeschützen und Flammenwerfern an, während noch Geiseln in der Turnhalle saßen. Die Ermittlungen ließen eine Reihe von Fragen offen. Bei vielen Opfern wurde die Todesursache nie festgestellt. Ob das Dach einstürzte, weil die Terroristen es sprengten, oder durch die Befreiung, ist bis heute nicht geklärt. Wie hatten es die Geiselnehmer überhaupt mit ihren schweren Waffen über die Grenze geschafft? "Viele dieser Kämpfer waren auf der Fahndungsliste. Wie konnten sie sich zusammentun", fragt etwa Aneta Gadijewa von der Organisation "Mütter von Beslan". Nur einer der etwa 30 Terroristen wurde lebend gefasst und verurteilt.

Bela Gubijewa stellt sich ähnliche Fragen. Sie erinnert sich, wie sie neben ihrer Freundin Madina vor der Turnhalle saß. Ein Terrorist kam und hielt seine Maschinenpistole an Madinas Stirn, dann an ihre, dann an Madinas, hin und her. "Man sagt, dass man in solchen Momenten seine Familie vor Augen hat", sagt Gubijewa. "Aber in mir war grenzenlose Leere." Ein älterer Geiselnehmer lenkte den Jüngeren ab und gab den Mädchen ein Zeichen, sich woanders hinzusetzen. Sie habe später viel darüber nachgedacht, was diesen Männern wohl in ihrem Leben widerfahren sei. "Aber ich habe aufgehört, jemanden zu beschuldigen."

Am dritten Tag war sie so erschöpft, dass sie sich auf den einzigen freien Platz in der Halle legte: unter die Stühle, auf die die Terroristen ihre Bomben gebaut hatten. Dort durfte sie nicht bleiben, und kaum hatte sie sich woanders hingekauert, explodierte die Halle. Ihre Ohren wurden taub, vor ihren Augen war alles schwarz. Dann sah sie Schatten aus dem Fenster springen. Erst half sie ihrem Bruder nach draußen, dann sprang sie selbst mit nackten Füßen in die Scherben. Sie kam raus, bevor das Dach einstürzte. Im Krankenhaus erkannte ihre eigene Mutter sie nicht, so dünn war sie, mit Dreck verschmiert, die langen Haare abgebrannt.

Heute reichen sie ihr bis zu Hüfte. Bela Gubijewa lebt seit zehn Jahren in Moskau, arbeitet als Chirurgin. Sie glaubt, sie hat es leichter als die, die in Beslan geblieben sind. Trotzdem hat sie manchmal noch Albträume, auch wenn sie seltener werden.

Die schmerzhafteste Frage ist wohl, ob die Einsatzkräfte die vielen Opfer hätten vermeiden können. "Ich kann das nicht beantworten", sagt sie. Dann erzählt sie von einem Soldaten, der sich in Beslan auf eine Granate stürzte, die ein Terrorist geworfen hatte. "Sie waren gekommen, um uns zu befreien", sagt sie, "wie kann ich sie verurteilen?" Was erwartet sie heute noch von den Politikern in Moskau? "Dass sie die Wahrheit nicht verheimlichen", sagt sie. Zum Jahrestag war Bela Gubijewa nicht in Beslan, sie musste arbeiten. Dort wurden am Sonntag Blumen in die zerstörte Turnhalle gebracht, die heute eine Gedenkstätte ist.

Für Gubijewa ist Beslan ihre Heimat, ihre gesamte Familie lebt dort. Wenn sie nach Hause kommt, sagt sie, ist das wie ein Feiertag. Dann sind alle da.

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Quelle:
SZ vom 03.09.2019
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