Süddeutsche Zeitung

Auschwitz-Prozess:Sieben Jahrzehnte nichts passiert

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Von Hans Holzhaider, Lüneburg

Der 16. Verhandlungstag im Prozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg gehörte den Vertretern der Nebenkläger - jener 60 Männer und Frauen, die entweder noch selbst in sehr jungem Alter in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt wurden oder die dort nächste Angehörige verloren haben.

Am Tag zuvor hatte Staatsanwalt Jens Lehmann für den 94-jährigen Angeklagten eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten gefordert. Diesen Strafantrag bezeichneten mehrere der Nebenklägervertreter als deutlich zu milde.

Der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler ging in seinem einstündigen Plädoyer der Frage nach, warum der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann erst jetzt, 71 Jahre nach den ihm zur Last gelegten Taten, stattfinden konnte.

"Diese Frage haben uns unsere Mandanten immer wieder gestellt", sagte Nestler. Sein Schlussvortrag geriet zu einer Generalabrechnung mit den Versäumnissen der Strafverfolgung von NS-Gewaltverbrechen in Deutschland.

Anwalt beklagt Verweigerungshaltung

Bis 1958, so Nestler, habe es in der Bundesrepublik keinerlei systematische Ermittlungen gegen Angehörige der SS in den Vernichtungslagern der Nazis gegeben, "ein Ausdruck der Verweigerung der Nachkriegsgesellschaft, sich der Verantwortung für die Schoah zu stellen".

Der Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963 bis 1965 habe dann "rechtliche Weichen" für die Verfolgung von NS-Verbrechern gestellt. Das Landgericht Frankfurt habe es nämlich abgelehnt, die Vernichtung von sechs Millionen Juden als eine im Rechtssinn einheitliche Tat anzuerkennen, sondern stattdessen auf konkrete Einzeltaten der Angeklagten abgestellt, zu denen sich die Täter jeweils von Neuem entschließen mussten.

Der Bundesgerichtshof habe diese Rechtsauffassung 1969 bestätigt. So seien viele Ermittlungen gegen SS-Angehörige eingestellt oder gar nicht erst aufgenommen worden, "weil ein derartiger Tatnachweis nicht zu führen war".

Darüber hinaus seien in Frankfurt hochrangige SS-Offiziere nur wegen Beihilfe zum Mord zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt worden mit der Folge, dass Verfahren gegen niedere SS-Chargen wegen "geringer Schuld" ganz eingestellt wurden.

So geschah es auch in dem Ermittlungsverfahren gegen Gröning, das 1985 eingestellt wurde. Der ermittelnde Staatsanwalt Klein verzichtete damals wegen "hohen Geschäftsandrangs" gleich ganz auf eine Begründung - ein in der deutschen Justizgeschichte wahrscheinlich einmaliger Vorgang.

Erst die - nicht rechtskräftig gewordene - Verurteilung des Ukrainers John Demjanjuk wegen dessen Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor habe dann 2011 die letzte Phase in der Verfolgung von NS-Verbrechen eingeleitet, sagte Nestler.

Die Ermittlungen führten auch zur Anklage gegen Oskar Gröning. Aber solche Verfahren, sagte Nestler, kämen nur noch zustande, wenn ein williger Staatsanwalt auf ein williges Gericht treffe und der Beschuldigte verhandlungsfähig sei.

So wie jetzt in Lüneburg: "Ein engagierter Staatsanwalt traf hier auf ein Gericht, das sich dem Recht verpflichtet fühlt und sich nicht von der Frage leiten lässt, wie man die Durchführung einer komplizierten Hauptverhandlung vermeiden könnte."

Für nicht gerechtfertigt hält Nestler den Antrag der Staatsanwaltschaft, einen Teil der zu verhängenden Freiheitsstrafe gegen Oskar Gröning als verbüßt zu betrachten, weil das frühere Ermittlungsverfahren gegen ihn zu lange gedauert habe. Eine erhebliche Belastung des Angeklagten durch diese Verzögerung habe es nicht gegeben.

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SZ vom 09.07.2015
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