Süddeutsche Zeitung

Artenschutz:Ausgehamstert

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Vor wenigen Jahrzehnten galt der Feldhamster noch als Plage. Heute ist er vom Aussterben bedroht - und ein mahnendes Beispiel dafür, wie schwer es ist, inmitten einer hochindustrialisierten Agrarwirtschaft Arten zu erhalten. Ein Besuch auf einem Kartoffelacker bei Sindlingen.

Von Jan Bielicki, München

Noch liegen hier Felder. Erdbraun breiten sie sich zu dieser Jahreszeit am Ortsrand des Frankfurter Stadtteils Sindlingen aus. Eigentlich sollten dort, wo im Sommer noch Kartoffeln wuchsen, längst die Bagger graben. Eine neue Siedlung sollte hier nach den Plänen der Stadt entstehen, 2000 Wohnungen für den Hochmieten-Großraum Rhein-Main.

Doch die Bauarbeiten müssen warten. Der Grund dafür lässt sich im Winter nicht sehen. Er schläft in den Höhlen, die er für sich und seine reichhaltigen Vorräte bis zu zwei Meter unter die Erdkrume gegraben hat. Etwa meerschweinchengroß ist er, flauschiges, braun-weißes Fell, nackter Schwanz, spitze Nase und geräumige Backen. Ein "leiblich recht hübsches, geistig aber umso hässlicheres, boshaftes und bissiges Geschöpf", wie Alfred Brehm 1879 den Feldhamster beschrieb.

Viele der pelzigen Nager schlafen nicht mehr unter den Feldern Sindlingens. "Inzwischen dürfte die Zahl hier einstellig sein", sagt der Biologe Tobias Erik Reiners, der am Senckenberg-Forschungsinstitut in Frankfurt arbeitet und mit seinen Helfern die Hamsterbauten gezählt hat. Feldhamster stehen gesetzlich unter strengem Schutz, deshalb hat die Stadt den Plan für die neue Siedlung wieder in die Schubladen gesteckt. Vorerst jedenfalls.

Statt einiger Tausend sind es kaum mehr zehn Hamster

Doch der vorläufige Planungsstopp dürfte den Sindlinger Hamstern so wenig helfen wie die Blühstreifen, die ihnen die örtlichen Landwirte am Rand ihrer Felder ausgesät haben. Die Tiere sind zu wenige, um auf Dauer überleben zu können. Um langfristig bestehen zu können, muss eine Population deutlich mehr als tausend, besser noch mehr als 5000 umfassen. Und zusammenhängende Lebensräume mit ausreichenden Hamsterzahlen "kann man in Deutschland an einer Hand abzählen", sagt Reiners.

Für Feldhamster nämlich ist Sindlingen überall. Und nicht nur in Deutschland steht das Tier dafür, wie schwer sich Artenschutz gerade dort tut, wo ihm die Zwänge und Interessen einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft entgegenstehen.

Vor wenigen Jahrzehnten war der Hamster auf den Getreidefeldern Deutschlands noch so allgegenwärtig, dass die Bauern ihn als Schädling bekämpften. Heute steht er vor dem Aussterben. In Deutschland und der EU ist der Nager bereits seit den Neunzigerjahren als höchst gefährdet eingeschätzt und durch europäische Konventionen und Richtlinien streng geschützt.

Im Sommer hat auch die Weltnaturschutzunion Alarm geschlagen und den Feldhamster in ihrer Roten Liste von "nicht gefährdet" auf "vom Aussterben bedroht" hinaufgestuft. Dieser Schritt über gleich drei Stufen hinweg überraschte sogar den Hamsterforscher Reiners, obwohl er selber zu denen gehörte, die die zugrundeliegenden Daten lieferten. Dabei kam heraus: Selbst in Osteuropa, in der Ukraine und in Russland geht es dem Hamster längst nicht so gut, wie lange noch vermutet. Insgesamt, sagt Reiners, "ist die Situation um ein Vielfaches schlimmer als in unseren schlimmsten Vorstellungen."

"Abgesenste" Felder rauben den Nagern ihren Schutz

Wie viele Feldhamster es in Deutschland noch gibt? Genau lässt sich das kaum fassen. Die Tiere sind von Raubvögeln, Füchsen oder Mardern hochgeschätzte Beute. So schwankt die Zahl je nach Jagdsaison, aber mehr als fünfstellig wird sie nicht sein, schätzt Reiners. Sicher ist, dass die Hamster seit zwei, drei Jahrzehnten rapide weniger werden. Allein in Hessen geht jedes Jahr mindestens eine Population verloren.

Verantwortlich dafür machen Artenschützer nicht die Landwirtschaft an sich. Denn schließlich lebt der Hamster in den Feldern und von den Feldfrüchten. Es ist die auf höchstmögliche Erträge ausgerichtete Agrarindustrie, die sich in den vergangenen drei Jahrzehnten entwickelt hat und seither dem Hamster - und vielen anderen Feldtieren - das Überleben nahezu unmöglich macht.

Natürlich setzen Giftköder, die Landwirte immer noch fast alle Jahre wieder gegen die Feldmaus einsetzen dürfen, auch geschützten Arten wie dem Hamster zu. Aber das eigentliche Problem ist buchstäblich größer: Wo früher kleinere Äcker nebeneinander lagen, auf denen unterschiedliche Feldfrüchte wuchsen, breiten sich heute vielerorts riesige Monokulturflächen von Mais oder Weizen aus - und werden von gewaltigen Erntemaschinen immer früher im Jahr "abgesenst", so formuliert es Reiners. Die Folge: "Den Hamstern fehlt von einem Tag auf den anderen jede Deckung."

Für Rotmilan, Hermelin und andere Fressfeinde ist das ein Fest, für den Lebensrhythmus der Hamster eine Katastrophe. Früher haben sie sich in benachbarte, später abgeerntete Felder geflüchtet, sich vollgefressen und Vorräte gehamstert, bis sie sich im Oktober zum Winterschlaf in ihren Bau zurückzogen. Doch Vieh wird heute kaum noch mit heimischer Luzerne gefüttert, sondern meist mit Sojafutter, importiert aus aller Welt. Und auf deutschen Äckern heute angebaute Turbosorten etwa von Weizen werden immer früher reif, auch der Klimawandel rückt Erntetermine immer weiter nach vorne.

Weil es an Nahrung fehlt, fressen sie ihren Nachwuchs auf

So müssen Feldhamster nun immer länger ohne die Deckung der Getreidehalme überleben. Das schadet auch der Fortpflanzung. Normalerweise hat ein Hamsterweibchen drei Würfe im Jahr. Doch heute registrieren Forscher nur noch selten einen dritten Wurf, und selbst der zweite bleibt oft aus. Dazu kommt: In den Monokulturen leiden viele der Tiere an Mangelernährung, es fehlen Proteine und Vitamine, vor allem das Vitamin B3. "Dann fressen sie ihren Nachwuchs auf", erklärt Moritz Franz-Gerstein.

Der gelernte Tierarzt arbeitet bei der Deutschen Wildtierstiftung und leitet das bundesweit bei Weitem größte Projekt zum Schutz der Hamster. Feldhamsterland heißt es und versucht seit 2018 in Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen die bedrohte Art zu erhalten. Der Etat über fünf Jahre beläuft sich auf etwa fünf Millionen Euro, 3,4 Millionen davon hat der Bund gegeben.

"Wir wollen die Populationen ganz gezielt pushen und päppeln", sagt Franz-Gerstein. Das Problem: Die klassische Art des Artenschutzes, in noch verbliebenen Wildlandschaften oder Wäldern Schutzgebiete auszuweisen, lässt sich auf die intensiv genutzten Kulturflächen des offenen Landes eben nicht übertragen. "Es geht hier nur in enger Kooperation mit den Landwirten", sagt Franz-Gerstein.

Denn Hamsterschutz bedeutet für Bauern Mehraufwand und Ernteverzicht. Da gibt es etwa die Möglichkeit, das Getreide bei der Ernte knapp unterhalb der Ähren zu schneiden und die Resthalme als Deckung stehen zu lassen. Oder in einem Feld eine Ecke eben nicht abzuernten. Oder auf manchen Flächen Blühstreifen anzusäen, die den Hamstern ebenfalls Deckung bieten - und dazu noch Wildkräuter und allerlei Kriechgetier, mit denen die Nager ihre Diät aufbessern können.

Freilich, das kostet: Verzicht auf Ernte schlägt in der Bilanz von Bauern schnell mit 1000 Euro und mehr pro Hektar zu Buche. "Den Aufwand muss man natürlich ersetzen", sagt Franz-Gerstein. Die Vorschriften, mit denen Bund und Länder die Vorgaben der EU zur Subventionszahlung für Öko-Maßnahmen regeln, müssten "attraktiver und flexibler" werden, fordert er. Und zwar schnell: "Je länger wir warten, desto mehr kostet es und desto weniger lässt sich damit noch erreichen." Eine Zuchtstation etwa für Feldhamster, auch das gibt es bereits im hessischen Kronberg, ist ein sehr teurer und artifizieller Versuch, eine Art zu erhalten.

Seine Knopfaugen machen ihn zum Symbol des Artensterbens

Und all das nur für den Hamster? Eben nicht nur. Was Hamstern guttut, nutzt auch Rebhühnern, Feldlerchen, Wildbienen, überhaupt Insekten, Würmern und vielen anderen Arten, deren Lebensraum das offene Ackerland ist - und von denen viele akut gefährdet sind. Dass der Feldhamster zum Symboltier dieses Artensterbens geworden ist, hat vor allem zwei Gründe: "Jeder kennt ihn, und er sieht süß aus", sagt Franz-Gerstein und vergleicht den knopfäugigen Nager mit einem ebenfalls höchst gefährdeten Insekt: "Mit der Laubholz-Säbelschrecke ließen sich eher nicht so viele Menschen für den Artenschutz gewinnen."

Für den Hamster aber lassen sich Landwirte recht schnell gewinnen, so die Erfahrung des Projektleiters, viele aus eigener Überzeugung, manche auch, weil eine Beteiligung den schlechten Ruf aufbessern könne, den die Landwirtschaft in weiten Teilen der Gesellschaft inzwischen hat: "Wer mit unserem Hamster-Schild auf seinem Hof anzeigt, dass er etwas für den Artenschutz tut, kommt auch im Dorf viel besser an."

Nur reicht das, damit auch künftig noch Hamster auf deutschen Feldern leben? Lange habe niemand zur Kenntnis nehmen wollen, wie schlimm das Artensterben auf Europas Feldern bereits fortgeschritten ist, sagt der Forscher Reiners, der auch das Projekt Feldhamsterland wissenschaftlich begleitet: "Im Wirtschaftsrecht würde das den Tatbestand der Insolvenzverschleppung erfüllen." Er fordert eine "grundsätzliche Wende in der Agrarlandschaft", hin zu kleineren Felder mit vielfältigeren Feldfrüchten und Randstreifen. Davon aber sieht der Biologe bisher "leider überhaupt keine Spur".

"Wenn wir Menschen eine Allerweltsart wie den Feldhamster in nur drei Jahrzehnten an den Rand des Aussterbens gebracht haben", sagt der Artenschützer Franz-Gerstein, "dann sollten alle Alarmglocken klingeln." Noch sei der Feldhamster aber zu retten.

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