Süddeutsche Zeitung

Angst:Alltagshorror

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Seit vergangenem Oktober gab es mehr als 40 Vorfälle, bei denen palästinensische Angreifer ihre Wagen in eine Menschengruppe steuerten - Israel musste sich daran gewöhnen, dass Autos zu Waffen werden.

Von Peter Münch

Wer in Jerusalem an einer Haltestelle auf den Bus oder die Straßenbahn wartet, der steht zumeist in einer Hochsicherheitszone: Schwere Betonklötze oder Eisenpoller sichern den Bürgersteig zur Straße hin ab, Kameras überwachen die gesamte Umgebung. Und in den vergangenen Monaten wurde noch einmal kräftig nachgerüstet, denn seit dem Beginn einer neuen Gewaltwelle im Herbst vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo in Israel oder den besetzten palästinensischen Gebieten eine Auto-Attacke gemeldet wird. Die Statistik verzeichnet seit Oktober mehr als 40 Vorfälle, bei denen palästinensische Angreifer ihren Wagen in eine Menschengruppe steuerten. Ein trauriger Rekord.

Im Unterbewusstsein herrscht bei vielen stets Alarmstimmung

Autos als Waffen der Wahl gehören zum israelischen Alltagshorror. Bei der Terrorbekämpfung hat das Land jahrzehntelange Erfahrung, und so ist es kein Wunder, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nach dem Grauen von Nizza der französischen Regierung sogleich Unterstützung angeboten hat. Doch auch im kämpferischen Israel muss man letztendlich eingestehen, dass gegen diese Art von Angriffen kein Kraut gewachsen ist - und kein Sicherheitskonzept denkbar.

Gewiss, aus Furcht vor Autos, die zu rollenden Bomben werden könnten, gibt es in Israel Vorschriften für Lastwagen, die mit gefährlichen Chemikalien nur auf bestimmten Straßen fahren dürfen. Aber selbst das kann im Ernstfall nicht verhindern, dass Terroristen einen gewöhnlichen Lkw mit Sprengstoff beladen und in ihr Ziel steuern. Ein anderes Beispiel: An einer besonders oft für Auto-Attacken genutzten Kreuzung in einer Siedlung im Westjordanland wurde für die palästinensischen Fahrzeuge eine eigene Umgehungsstraße eingerichtet. Doch schon an der nächsten Kreuzung könnte der Angreifer zuschlagen. Auch der festungsartige Schutz der Haltestellen ist nur ein punktuelles Hilfskonstrukt, denn rechts und links davon lässt sich die Gefahr nicht bannen.

Die jüngste Serie von Auto-Attacken wirkt wie eine lange Kette von Nachahmungstaten - meist wohl eher spontan verübt von Einzeltätern in ihren unauffälligen Privatautos. In der Vergangenheit jedoch hat es auch einige spektakulärere Fälle gegeben: Ins Gedächtnis eingegraben haben sich zwei Bagger-Attentate in Jerusalem im Sommer 2008, als im Abstand von drei Wochen zwei Palästinenser mit Baumaschinen Amok fuhren, drei Menschen töteten und Dutzende verletzten. Drei Jahre später wiederholte sich das in Tel Aviv mit einem 20-Tonnen-Laster, einen Toten sowie 17 Verletzte forderte der Anschlag.

Dass nach all diesen Erfahrungen eine Alarmstimmung zumindest unterbewusst stets vorhanden ist, zeigt ein Vorfall von Mitte Juni in Tel Aviv: Da raste ein Auto ungebremst auf der belebten Ben-Jehuda-Straße in ein chinesisches Restaurant. Die Besitzerin berichtete im Fernsehen, dass alle sofort an einen Terroranschlag glaubten und Umstehende auf den Fahrer einschlugen. Drei Tote waren zu beklagen, einschließlich des Fahrers. Der war kein palästinensischer Attentäter, sondern Israeli. Er hatte am Steuer einen Herzanfall erlitten und die Kontrolle über den Wagen verloren.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2016
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