Süddeutsche Zeitung

Mutmaßliche Amokfahrt:Münster, Köln, Recklinghausen - und jetzt Bottrop

Lesezeit: 3 min

Von Benedikt Müller, Bottrop

In Bottrop brechen Schausteller am Mittwoch die Zelte eines Festes ab, das nie stattgefunden hat. Sechs weiße Pavillons hatte sich die Stadt auf ihren zentralen Berliner Platz stellen lassen, mit Biertischen und Heizpilzen darin, wollte sie doch am Neujahrstag ihr 100-jähriges Bestehen feiern. Doch dieses Fest hat Bottrop abgesagt, "angesichts der furchbaren Ereignisse" in der Silvesternacht, wie Oberbürgermeister Bernd Tischler sagt. Der SPD-Mann zeigt sich "entsetzt und tief getroffen".

Denn als die Menschen auf den Straßen gerade den Jahreswechsel feierten, soll ein 50-Jähriger aus Essen sein Auto gezielt in vier Passantengruppen gesteuert haben, die ihm ausländisch erschienen. Dabei wurden mindestens acht Menschen verletzt, eine Frau aus Syrien schwebte zwischenzeitlich in Lebensgefahr.

Nun hat ein Richter Haftbefehl gegen den Mann erlassen, wegen mehrfachen versuchten Mordes. Der 50-Jährige, der vor seiner mutmaßlichen Amokfahrt in psychiatrischer Behandlung war, sitze mittlerweile in Untersuchungshaft, teilen Polizei und Staatsanwaltschaft mit.

Jeder Fünfte in Bottrop hat einen Migrationshintergrund

In den Vernehmungen habe der mutmaßliche Täter Ausländer "für alles verantwortlich" gemacht, sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch. "Da war offensichtlich ein starker Ausländerhass." Bislang gebe es keine Hinweise, dass der 50-Jährige Teil eines rechtsextremen Netzwerks sein könnte. Doch noch ermitteln die Behörden, durchsuchen die Wohnung des mutmaßlichen Täters, die Polizei befragt Zeugen in Bottrop.

Vor der Festbühne des Stadtjubiläums liegen am Mittwoch noch Böllerreste und Zigarettenschachteln und Holzstäbe von Raketen. Wer Silvester zentral in der Stadt feiern will, der komme Jahr für Jahr hierher, erzählen die Passanten auf dem Berliner Platz, dem Tatort zwischen dem alten Postamt und dem Busbahnhof, mit Cafés und Apotheke, Supermarkt und Arztpraxen.

Hier ist der mutmaßliche Täter kurz nach Mitternacht mit seinem silberfarbenen Mercedes in eine Menschengruppe gefahren, teilen die Behörden mit. Er traf eine syrische Familie mit zwei Töchtern, eine Frau aus Afghanistan mit ihrem vierjährigen Sohn. Von diesem Moment an fahndete die Polizei nach dem Autofahrer. Bereits wenige Minuten zuvor versuchte der mutmaßliche Täter im Westen Bottrops, auf einer Einfallstraße mit Backsteinhäusern, einen einzelnen Fußgänger anzufahren. Doch der Passant konnte sich noch retten.

Die mutmaßliche Amokfahrt erschüttert die Stadt mit ihren gut 116.000 Einwohnern. Gut jeder Fünfte hier hat einen Migrationshintergrund. Der 38-jährige Hamdi Salah ist am Mittwoch aus der Nachbarstadt Gladbeck nach Bottrop gefahren, er kam schon am Neujahrstag zur Gedenkminute auf den Berliner Platz. "Das ist das Mindeste, was man tun kann", sagt der Sohn eines einstigen Gastarbeiters.

Münster, Köln, Recklinghausen: Der Fall reiht sich in eine traurige Folge ein

Für Salah ist die mutmaßliche Amokfahrt ein trauriges Beispiel dafür, dass die Stimmung gegenüber Ausländern im ganzen Land schlecht geworden sei. "Als Migrant hat man die Arschkarte gezogen", befürchtet er, allzu oft würden alle über einen Kamm geschoren.

Mittlerweile kennen die Ermittler die Identitäten der Verletzten. Demnach flüchtete der mutmaßliche Täter vom Berliner Platz die wenigen Kilometer zurück in seine Heimatstadt Essen. Dort fuhr der 50-Jährige einen Menschen mit türkischen Wurzeln an und verletzte ihn am Fuß. Und auch dort versuchte er, in eine Fußgängergruppe hineinzusteuern, die an einer Bushaltestelle gewartet hatte.

Doch sei er dort so auffällig gefahren, sagt Minister Reul, "dass offensichtlich die Leute das geahnt haben und sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten". Eine Straße weiter hielt die Polizei den Mann nach eigenen Angaben an und nahm ihn fest. Bereits dabei habe sich der Mann fremdenfeindlich geäußert.

Bislang gehen die Ermittler davon aus, dass der mutmaßliche Täter spontan gehandelt habe, ohne handfeste Pläne. Dies seien jedoch nur vorläufige Erkenntnisse, betont Reul. "Da muss man abwarten, was die Untersuchungen ergeben." Der mutmaßliche Täter sei einst in psychiatrischer Behandlung gewesen, polizeilich sei er zuvor aber nicht in Erscheinung getreten.

Damit reiht sich der Fall in eine traurige Folge ein, die Behörden in Nordrhein-Westfalen zunehmend besorgt: Nachdem in Münster im vergangenen April ein 48-Jähriger mit einem Kleinbus in eine Passantengruppe fuhr, damals starben vier Menschen und der Fahrer, erschütterte ein Brandanschlag und eine Geiselnahme im Hauptbahnhof im Oktober die Stadt Köln. Und im Dezember steuerte ein Fahrer in Recklinghausen sein Auto in eine Menschengruppe an einer Bushaltestelle, dabei starb eine Frau. Alle mutmaßlichen Täter hatten psychische Probleme, waren den Behörden aber nicht als mögliche Gefährder bekannt.

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