Süddeutsche Zeitung

Aktuelles Lexikon:Tieropfer

Der Mensch zielt aufs Tier und meint sich selbst.

Von Martin Zips

Im Vergleich zum Menschenopfer stellt das Tieropfer bereits einen beachtlichen kulturellen Fortschritt dar. Erhofften sich beispielsweise die Azteken noch durch frisch herausgelöste, zuckende Menschenherzen eine positive Beeinflussung des Sonnenlaufs, so fanden im griechischen Mythos von Iphigenie sowie bei Isaak im ersten Buch Mose bei ähnlichen kultischen Handlungen bereits Widder Verwendung. Weiter fortentwickelt wurde die Darbringung an die Gottheit durch theriomorphe, also tiergestaltige Süßspeisen wie zum Beispiel hasenförmige Schokolade, Opferlämmer aus Teig oder Frühstückshörnchen, die entfernt an Widder-Hörner erinnern. In jedem Fall liegt dem Tieropfer der Gedanke eines geheimnisvollen Zusammenhangs von Tod und Leben zugrunde. Im Symbol des Tieres, so die Idee, kann sich der opfernde Mensch selbst seiner Gottheit als Geschenk darbringen, um von ihr frische Lebenskraft zu erhalten. Dass in diesen Tagen beim hinduistischen Gadhimai-Pilgerfest in Nepal wieder mit der Schlachtung von Hunderttausenden Tieren gerechnet werden muss, dürfte den dahinterstehenden Vertragsglauben allerdings pervertieren. Da nämlich in vielen Religionen davon ausgegangen wird, dass Gott all seine Geschöpfe liebt, könnte ihm ein solches Massaker eher missfallen.

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SZ vom 05.12.2019
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