Süddeutsche Zeitung

Aktuelles Lexikon:Selbstläufer

Nichts ist ein Selbstläufer außer er selbst. Über ein Fabelwesen der Sprache.

Von Meredith Haaf

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat die Welt definiert als alles, was der Fall ist, die Gesamtheit der Tatsachen. In gewisser Weise wäre der Selbstläufer dann nicht von dieser Welt. Denn er dient in der Regel als Negativbezeichnung im übertragenen Sinn. Kaum etwas ist im Jargon des Alltags ein Selbstläufer: Die Ehe ist laut Paartherapeuten keiner, der zweite Platz in der Bundesligatabelle laut BVB-Trainer Lucien Favre auch nicht, ebenso wenig wie die Digitalisierung im Bildungswesen laut der Deutschland-Chefin von Microsoft. Auch die Freiheit, sagt Kardinal Reinhard Marx, sei kein Selbstläufer, schon gar nicht im Rahmen einer Gesellschaftsordnung. Marx hat soeben ein Buch darüber veröffentlicht, dass eine gleichberechtigte, freiheitliche Gesellschaft eben nur unter kontinuierlichem Einsatz von Kraft und Anpassungsleistungen am Laufen und damit am Leben bleibt, wie das für Ehen, Bundesligaerfolge und Reformen auch gilt. Der Selbstläufer ist also in gewisser Weise eine Art Einhorn des Diskurses und wurde als Begriff vor wenigen Jahrzehnten noch selten gebraucht. Im wörtlichen Sinn aber bezeichnet er eine Maschinenart, die selbst läuft, also nicht im laufenden Betrieb bedient werden muss. Mit echten Selbstläufern werden etwa Muster auf großen Stoffbahnen und andere Tatsachen geschaffen.

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SZ vom 07.07.2020
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