Süddeutsche Zeitung

Aktuelles Lexikon:Dialekt

Die Mundarten haben dem Hochdeutschen manches voraus - und eignen sich doch nicht für die Werke Kants.

Von Hermann Unterstöger

Mit der "Bairischen Sprachwurzel", die in diesem Jahr an den Musiker und Moderator Werner Schmidbauer verliehen wurde, soll die Öffentlichkeit auf Schönheit, Wert und Gefährdung der Dialekte, vornehmlich natürlich des bairischen, aufmerksam gemacht werden. Ungeachtet dessen, dass Goethe in "Dichtung und Wahrheit" den Dialekt als "das Element" pries, "in welchem die Seele ihren Atem schöpft", hatten und haben die Mundarten mit einer Missachtung zu kämpfen, die der Seele das Atemschöpfen manchmal sehr verleidet. Aus der alle Dialektregionen übergreifenden Geltung des Hochdeutschen wird oft geschlossen, dass es sich bei den Dialekten um defekte Sprachen handle. Im Gegensatz dazu schätzt die Wissenschaft den Dialekt von seiner formalen, ausdrucksseitigen Qualität her als ein selbständiges und vollständiges System ein, das in der Regel alle grammatischen Ebenen besetzt (Metzler Lexikon Sprache). Wahr ist freilich, dass den Dialekten die Fähigkeit zur höheren und feiner differenzierten Gedankenwiedergabe fehlt, dass es also müßig wäre, Kants "Kritik der reinen Vernunft" beispielsweise ins Bairische zu übersetzen. Dialekte, die bei guter Gesundheit sind, kompensieren diesen Mangel indes durch Ausdrucksmöglichkeiten, die dem Hochdeutschen nie zur Verfügung stehen werden.

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SZ vom 22.08.2020
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