Süddeutsche Zeitung

Akten:Was nicht in der Welt ist

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Das löchrige Gedächtnis der Demokratie: Stiftungen und Parteien horten offizielle Akten und geben sie nicht heraus. Eine Historikerin will sie nun vor Gericht dazu zwingen.

Von Heribert Prantl

Akten gelten als langweilig. Günther Beckstein, Nachfolger von Edmund Stoiber als bayerischer Ministerpräsident, hat daher über seinen Vorgänger den Kalauer geprägt: Dem sei eine dicke Akte lieber als eine dünne Nackte. Das war eine nette Frotzelei, aber eine grobe Ungerechtigkeit gegenüber den Akten.

Akten sind nur langweilig für den, der zu faul ist, sie zu lesen. Akten sind - das klingt pathetisch, stimmt aber - das Gedächtnis der Demokratie. Es ist deshalb etwas sonderbar, wenn Präsidenten, Kanzler, Minister und Staatssekretäre nach dem Ende ihrer Amtszeit die Akten einfach mit nach Hause nehmen. Genauer gesagt: Das ist nicht nur sonderbar, das ist rechtswidrig. Das ist ein Verstoß gegen die Archivgesetze, das ist womöglich eine Straftat: Die heißt Verwahrungsbruch.

Das Bundeskanzleramt verlangt derzeit die Herausgabe von Akten, die Helmut Schmidt während seiner Kanzlerschaft ins sein Hamburger Privathaus mitgenommen hat. Die Unterlagen befinden sich in seinem Privatarchiv, das die Helmut und Loki-Schmidt-Stiftung übernommen hat. Das Kanzleramt will die Papiere ins Bundesarchiv überführen. Das Bundesarchiv klagt regelmäßig darüber, dass amtliche Dokumente "in die privaten Papiere von Politikern und Spitzenbeamten gelangen" und dann an die Archive der Parteien übergeben werden - dort bleiben sie dann oft dem Zugriff von Forschung und Wissenschaft entzogen.

Die Haltung der Gerichte: Pech für den Wissenschaftler, der nicht herankommt

Das könnte sich jetzt ändern: Die Berliner Historikerin und Journalistin Gabriele Weber hat Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht, um an amtliche Akten zu kommen - die, wie Archivare süffisant formulieren, der "Privatisierung" anheimgefallen sind. Es geht um Unterlagen aus dem Jahr 1960; sie betreffen Vorgänge im Bundeskanzleramt zu Zeiten von Konrad Adenauer. Das Kanzleramt wurde damals von dem wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittenen Staatssekretär Hans Globke geleitet. Die Akten müssten eigentlich im Bundesarchiv liegen und der Forschung zur Verfügung stehen. Man findet sie aber nicht dort. Sie liegen an Orten, wo es kein Recht auf Zugriff gibt.

In den fraglichen Akten sind die Verhandlungen festgehalten, die in Globkes Auftrag der Bankier Hermann Josef Abs mit dem Staat Israel und der Regierung von David Ben-Gurion geführt hat. Es geht dabei um Wiedergutmachungsleistungen an Israel im Allgemeinen und speziell um die Aktion "Geschäftsfreund", in deren Rahmen ein Betrag von insgesamt 630 Millionen Mark an Israel gezahlt worden sein soll, für Projekte in der Negev-Wüste.

Die Akten dazu sind nach dem Ausscheiden Globkes nicht im Kanzleramt verblieben, sie sind auch nicht dem Bundesarchiv übergeben worden. Sie befinden sich heute im Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Akten des Bankiers Abs wurden gleichfalls nicht dem Bundesarchiv übergeben, sondern befinden sich heute im Historischen Institut und Archiv der Deutschen Bank, deren Vorstandsvorsitzender Abs war - neben seiner Tätigkeit als Verhandlungsbeauftragter der Regierung Adenauer und Vorstand der Kreditanstalt für Wiederaufbau, einer Staatsbank.

Beide Institutionen verweigerten der Historikerin und Journalistin Weber die Akteneinsicht. Daraufhin klagte sie - vergeblich durch alle Instanzen - gegen die Bundesrepublik, vertreten durch den Präsidenten des Bundesarchivs in Koblenz: Der möge die Akten "bereitstellen", sie also von den privaten Archiven verlangen und dann ihr zur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung stellen.

Sowohl das Verwaltungsgericht Koblenz als auch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und dann auch das Bundesverwaltungsgericht wiesen die Klägerin ab. Die Begründung lautet, auf einen Nenner gebracht, so: Akten im Sinn des Bundesarchivgesetzes seien nur die Akten, die sich auch im Besitz des Bundesarchivs befinden. Wenn sie sich nicht dort befinden - Pech gehabt. Pech für den Wissenschaftler, der nicht herankommt; Pech für den Journalisten, der nicht recherchieren kann. Pech für die Öffentlichkeit, die nichts erfährt. Juristen reden hier vornehm von einem "formellen Aktenbegriff". Eine Pflicht des Staats, dafür zu sorgen, dass die Akten dort sind, wo sie hingehören - eine solche Pflicht sahen die Gerichte nicht. Das versucht nun die Verfassungsbeschwerde zu ändern.

Der Klägerin ist das "Forum Justizgeschichte", ein Verein zur Erforschung der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, mit einem Gutachten zur Seite gesprungen. Der frühere Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth listet darin akribisch die Rechtsgrundlagen auf, die eine umfassende Abgabepflicht an die Bundes-und Landesarchive statuieren. Das Bundesarchiv treffe im vorliegenden Fall eine "grundrechtssichernde realisierungsfähige Beschaffungspflicht". Ansonsten würde jede Aufarbeitung der Vergangenheit ins Leere laufen. Deiseroth schreibt von einer "Flucht aus den Zugangsmöglichkeiten des Archivrechts hinein in eine Grauzone der Informationsunterdrückung".

Nach dem Bundesarchivgesetz sind "die Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte des Bundes, die bundesunmittelbaren Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts und die sonstigen Stellen des Bundes" verpflichtet, "alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben einschließlich der Wahrung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nicht mehr benötigen, dem Bundesarchiv zur Übernahme anzubieten und, wenn sich um Unterlagen von bleibendem Wert handelt, als Archivgut des Bundes zu übergeben". Ähnliche Regeln finden sich in den Landesarchivgesetzen. Auch sogenannte "privatdienstliche" Aufzeichnungen gehören zu den abzugebenden Unterlagen. Der Grund ist unmittelbar einsichtig: Die Demokratie ist eine Staatsform, die den Wechsel der Regierungen als wünschenswert und normal ansieht. Die Demokratie ist deshalb in ganz besonderem Maß angewiesen auf die Dokumentation und die Archivierung von Entscheidungen. Neue Regierungen sollen wissen, mit welchen Motiven und Überlegungen ihre Vorgänger gearbeitet haben.

So ist die Kontinuität trotz Regierungswechsel gewährleistet, so wird Transparenz gesichert; die Archivierungspflicht ist auch ein vorbeugender Schutz gegen undurchsichtige Machenschaften. Das Archiv mit den dort aufbewahrten Akten verbindet das Regierungshandeln bei wechselnden Mehrheiten. Archive sind ein Fundament für gute Zukunftsplanung, weil sie Erinnerung und Erfahrung bewahren. Ein Archiv ist also eine Art schlafendes Gedächtnis - aber aufgeweckt werden kann nur das, was da ist und nutzbar ist.

Bei den Aufzeichnungen handelt es sich nicht um Notizen vom Familienurlaub

Quod non est in actis, non est in mundo , sagt der alte lateinische Spruch: Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Das ist nicht nur eine rechtliche Maxime, das ist eine archivalische Wahrheit. Was nicht in den Akten ist, ob in den papierenen oder den elektronischen Akten - das kann nicht aufbewahrt, gesichert und gespeichert werden. Es kann dann nicht mehr nachvollzogen werden, auf welcher Grundlage Entscheidungen oder Nichtentscheidungen getroffen wurden.

Es gibt sehr wohl ein öffentliches Bewusstsein dafür, dass dies wichtig ist und warum. Als 2012 ruchbar wurde, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz Akten über den Nationalsozialistischen Untergrund NSU vernichtet wurden, reagierte die Öffentlichkeit zornig und empört. Der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz in Köln und die Verfassungsschutzchefin von Berlin mussten zurücktreten.

Bei den Aufzeichnungen, die sich Spitzenbeamte und Amtsträger beim Regieren gemacht haben, handelt es sich nicht um Notizen und Belege vom letzten Familienurlaub. Es handelt sich um die Dokumentation der Regierungsbürokratie. Die gehört nicht dem Kanzler, der Regierung oder ihren Beamten, sondern der Bundesrepublik Deutschland und der Öffentlichkeit.

Der frühere Bundesverwaltungsrichter Deiseroth äußert die Vermutung, dass die alten Wiedergutmachungsakten absichtlich bei privaten Stiftungen "geparkt" worden sein könnten, um sie dem Anwendungsbereich des Bundesarchivrechts und damit wissenschaftlichem und journalistischem Zugriff zu entziehen. Mit Pressefreiheit und der Freiheit von Forschung und Wissenschaft wäre so etwas nicht zu vereinbaren; mit dem Informationsfreiheitsgesetz auch nicht. Natürlich gehören auch digitale Daten zu den Daten, die aufbewahrt und archiviert werden müssen - sonst wäre die Demokratie in einiger Zeit ohne Gedächtnis, also hirnlos.

In den USA wird die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton heftig kritisiert, weil sie als Außenministerin dienstliche E-Mails über ihre private E-Mail Adresse laufen ließ. Das US-Außenministerium hat im Rahmen von Informationsfreiheitspflichten zigtausende von Clinton- E-Mails ins Netz stellen müssen.

Die öffentliche Sensibilität, die es in den USA bei digitalen Regierungsdaten gibt, ist in Deutschland selbst bei Papier-Akten noch zu schwach ausgebildet. Das Bundesverfassungsgericht hat nun die Möglichkeit, dies zu ändern.

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SZ vom 11.06.2016
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