Süddeutsche Zeitung

Afrika:Bittere Pointen und blinde Flecken

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Bartholomäus Grill begegnet in seinem Buch den vorherrschenden Afrika-Diskursen mit gesunder Skepsis. Mit klugen Reportagen hinterfragt er viele Stereotype über den Kontinent.

Rezension von Moritz Behrendt

Das Beste zuerst: Bartholomäus Grills neues Buch "Afrika" ist kein Buch über Afrika. Es ist Reflexion und Rückblick auf ein jahrzehntelanges Korrespondentendasein mit eindrücklichen Reportagen aus gut einem Dutzend afrikanischer Staaten und ganz nebenbei eine kluge Kritik der vorherrschenden Afrika-Diskurse in den vergangenen Jahrzehnten.

In den 1990er-Jahren wurde intensiv über die These der frankokamerunischen Autorin Axelle Kabou debattiert, dass vor allem die korrupten afrikanischen Eliten eine Entwicklung des Kontinents verhinderten. Zuletzt verstärkte sich wieder der Trend, die Kolonialzeit und ihre Spätfolgen für alle Übel verantwortlich zu machen. "Beide Positionen - selbst verschuldet versus fremdverschuldet - greifen zu kurz", schreibt der langjährige Korrespondent der Zeit und de s Spiegels.

Auch der Blick in die Zukunft Afrikas unterliegt konjunkturellen Schwankungen. Mal heißt es: arm, abgehängt, aussichtslos, dann wird Afrika wieder als Chancenkontinent hochgeschrieben. Grill macht deutlich, dass diese globalen Ferndiagnosen mit der Realität häufig wenig zu tun haben. Er weigert sich, Afrikaner zu viktimisieren und sie so zu Objekten der eigenen Geschichte zu machen; und dennoch benennt er klar, welche verheerenden Auswirkungen beispielsweise die EU-Agrarsubventionen für die Landwirte in afrikanischen Staaten haben.

Leidvoller Vorsprung durch Erfahrung

Besonders elegant lässt Grill die Luft aus der - vor allem von der Wirtschaft geliebten - Phrase von Afrika als "Zukunftskontinent". Das stimme durchaus, so Grill, Afrika sei in mancher Hinsicht ein Laboratorium, in dem sich Probleme schon früher abzeichneten als in anderen Weltgegenden. Das reiche von der Kolonialzeit, als die europäischen Mächte ihre Repressionsmethoden auf dem Kontinent einübten, bis in die Gegenwart, denn die Folgen des Klimawandels, die Verwerfungen durch Flucht und Vertreibung bekamen afrikanische Gesellschaften früher zu spüren als der reiche Norden. Und selbst im Umgang mit Pandemien haben viele afrikanische Gesellschaften einen leidvollen Vorsprung durch Erfahrung.

Wenn nun die Afrikanische Union oder Intellektuelle, wie der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr, betonen, für afrikanische Probleme brauche es afrikanische Lösungen, begleitet Grill das mit der gleichen gesunden Skepsis wie westliche Initiativen, die sich hinter Schlagworten wie einem Marshall-Plan für Afrika verbergen. Grill maßt sich nicht an, selbst zu wissen, was besser für die Entwicklung auf dem Kontinent wäre. Hin und wieder erliegt er dennoch der Verlockung, grundsätzlich über die Zukunft Afrikas nachzudenken - diese Stellen gehören nicht gerade zu den originellsten im Buch.

Heute schämt er sich für manches Urteil von früher

Dagegen ist es besonders stark, wenn der Autor das eigene Tun reflektiert. Wenn er in Sierra Leone Jusu Jarka wiedertrifft, zwölf Jahre, nachdem er 1999 in einer Reportage darüber geschrieben hatte, wie dem Mann im Krieg beide Hände abgehackt wurden. Oder wenn er offen bekennt, dass er sich heute für Artikel schämt, die er zu Beginn des Genozids in Ruanda geschrieben hat: "Ich fabulierte über den 'grausamen Stammeskrieg im Herzen Afrikas', bei dem jeder gegen jeden kämpfe. Bellum omnium contra omnes - die Lateinerformel passt immer, wenn man vom tatsächlichen Geschehen wenig Ahnung hat."

Zur gleichen Zeit, 1994, erlebte er voller Euphorie, wie Nelson Mandela zum Präsidenten Südafrikas gewählt wurde. Hoffnung und Enttäuschungen sind wiederkehrende Erfahrungen in Grills "Rückblicken in die Zukunft eines Kontinents" - in Südafrika, wo er die meiste Zeit gelebt hat. Aber auch in Tansania: In dem ostafrikanischen Land sieht Grill Anzeichen dafür, dass die neue Präsidentin Samia Suluhu Hassan einen stärker von der Vernunft geleiteten Politikstil einschlägt als ihr Vorgänger John Magufuli. Aber Grill weiß sehr wohl, dass auch der "Bulldozer" Magufuli einst als Hoffnungsträger galt, bevor er zum repressiven Autokraten wurde, in dem Land, in dem einst Julius Nyerere seinen afrikanischen Sozialismus entwickelte. Auch wenn das Modell wirtschaftlich scheiterte, begeisterte Nyerere mit seinen Ideen seit den 1960er-Jahren weltweit viele - vor allem junge - Menschen. Auch für Grill als "Dritte-Welt-Bewegten" war Tansania im Jahr 1980 der Beginn "einer Liebesgeschichte", wie er schreibt.

Reportagen aus mehreren Jahrzehnten kombiniert mit kluger historisch-politischer Analyse verleihen auch dem Kapitel über Äthiopien, dem wohl stärksten des Buches, seine Tiefenschärfe. Grill beschreibt eindrücklich, wie sich das Land 1991 vom Joch der sozialistischen Mengistu-Diktatur befreit, um in einer eher zweifelhaften Demokratie und einem scheinbar unlösbaren Konflikt mit Eritrea zu landen. 2018 gelingt dann dem Hoffnungsträger Abiy Ahmed die Aussöhnung mit dem Nachbarland - der Regierungschef wird getragen von einem beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung und einer großen Aufbruchstimmung im Land. Zeigt sich hier der Zukunftskontinent Afrika? Die Pointe ist tragisch: Seit 2020 lassen der Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed und die alten Eliten aus der Provinz Tigray ihre Armeen in einem unerbittlichen Krieg aufeinander los. Wie Grill diese Kriege und Konflikte in Äthiopien in die Weltgeschichte einbettet, das ist äußerst lesenswert. Zudem reichert er seine Beschreibung durch historische Exkurse an und würzt sie mit bitterbösen Kommentaren zur zweifelhaften Rolle deutscher Politiker und Entwicklungshelfer - das ist so gut, dass es für ein eigenes Buch reichen würde.

Dem Dilemma des Buchmarkts entkommt Grill nicht

Doch ganz im Sinne der Grill'schen Selbstbefragung: Würde ein gut recherchiertes Buch über den aktuellen Konflikt in Äthiopien und seine Hintergründe in Deutschland eine Leserschaft finden? Oder gar eines über die florierenden Start-ups in Kenia oder über die Konflikte in Côte d'Ivoire zwischen Einheimischen und Zuwanderern? Vermutlich nicht. Bartholomäus Grill kennt und benennt die Dilemmata der Afrika-Berichterstattung, ganz entkommt er ihnen aber nicht.

Es ist ein Fluch des deutschen Buchmarktes, dass alle Titel, die sich mit Ländern südlich der Sahara befassen, immer den Namen des ganzen Kontinents in großen Buchstaben auf dem Cover tragen müssen. Und dann kommen doch immer wieder die gleichen Schauplätze vor: Geht es um schwierige Versöhnung, führen alle Wege nach Südafrika und Ruanda. Ist von Korruption und Unregierbarkeit die Rede, wird auf Nigeria mit seinen mehr als 200 Millionen Einwohnern geschaut. Beim Umgang mit den Wunden der Kriege ist die Auswahl etwas größer: Kongo, vielleicht noch Liberia oder Sierra Leone eignen sich als Schauplätze für Leidensgeschichten in westlichen Medien. Das ist auch bei Grill in weiten Teilen der Fall, auch wenn er nicht vorgibt, über ganz Afrika zu schreiben und Einschränkungen des eigenen Sichtfelds immer wieder klug reflektiert.

Aber grundsätzlich bleibt es dabei: Wenn in Deutschland das Wort Afrika fällt, dann ist eine gute Hälfte der afrikanischen Staaten entweder mitgemeint oder bleibt gleich ein blinder Fleck - wobei nicht klar ist, was die weniger schlechte Interpretation ist.

Moritz Behrendt ist freier Journalist und Mitherausgeber des Magazins " Zenith".

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Quelle:
SZ vom 27.09.2021
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