Süddeutsche Zeitung

30 Jahre Grenzöffnung:Alte Zäune, neue Zäune

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Merkel und Orbán sind Kinder der historischen Ereignisse des Jahres 1989. Ihr Werdegang ist grundverschieden. Freiheit oder Abgrenzung? Europa muss sich entscheiden, welchem Beispiel es folgen will.

Von Stefan Kornelius

Als in Ungarn vor 30 Jahren der Grenzzaun zu Österreich zerschnitten wurde, war der junge Viktor Orbán so etwas wie ein Öffnungsgewinner. Ausgestattet mit einem Stipendium seines späteren Erzfeindes George Soros studierte er in Oxford, profilierte sich als demokratischer Jugendaktivist und Parteigründer, zog ins Parlament ein und ging fortan seinen Weg in der Fidesz-Partei und als nationalpatriotischer Politiker mit feinem Gespür für Macht und Stimmungen. Dass er heute hinter ein paar selbstgebauten Zäunen sitzt, ist eine ironische Note der Geschichte. Orbáns Biografie zeigt, dass Freiheits- und Machthunger nicht immer zu verbinden sind.

Der ungarische Premier wählte das Vehikel des Nationalpatriotismus, um seinen politischen Ambitionen ein Dach zu geben. Im Licht der ungarischen Geschichte waren Identität und Vaterland leichte Beute für seine neue Partei. Als er sie eingefangen und nahezu monopolisiert hatte, hatte er leichtes Spiel.

Orbán zählte in den Nachwendejahren zu den Lieblingsreformern der westeuropäischen Konservativen. Helmut Kohl, Jean-Claude Juncker oder Wolfgang Schüssel sahen in ihm einen natürlichen Verbündeten, einen Garanten für die Fortsetzung christdemokratischer Politik in Mitteleuropa. Orbáns Wendungen in den Jahrzehnten seitdem, seine Zaunbauten und die Radikalisierung wurden ihm deswegen lange nachgesehen. Viel zu lange.

30 Jahre bieten eine schöne Gelegenheit für den historischen Draufblick. Orbáns Treffen mit Angela Merkel an diesem Montag macht die Bestandsaufnahme noch einmal leichter, weil auch die deutsche Bundeskanzlerin mittelbar ein politisches Kind der ungarischen Zaunöffnung ist. Sie musste ihren Weg allerdings in weitgehend festgelegten Bahnen antreten. Selbst wenn sie es gewollt hätte: Sie konnte gar nicht die Schwankungen und Radikalisierungen einer jungen, unerprobten Demokratie gebrauchen und missbrauchen, so wie Orbán das tat.

Wenn die beiden nun ein Jubelereignis begehen, dann bietet das nicht nur Gelegenheit zur frommen Rückschau, es liefert auch eine Lektion über die Gefährdung, der eine offene Gesellschaft stets ausgesetzt ist. Die Zaunöffnung war kein singuläres, zufälliges Ereignis, sondern Kulminationsmoment einer ins Freie strebenden Gesellschaft. Die Zeit war reif, die Menschen wollten es so. Sie wollten ein Lebensmodell, das ihrer Beobachtung nach in der Gemeinschaft der Staaten Europas am besten verwirklicht werden konnte.

Die Begegnung Orbáns mit Merkel 30 Jahre danach erinnert auch dank der Biografien der beiden daran, dass Zäune nie dauerhaft niedergerissen sind und das große Menschheitsthema Zugehörigkeit nie endgültig gelöst ist. Orbáns antieuropäische Politik, seine klare Abgrenzung auch zu den Institutionen der EU, verdreht die historische Erinnerung auf groteske Weise. Der Mann, der seine politische Existenz und Karriere dem Freiheitswunsch und dem Westdrang verdankt, lebt nun von der Abgrenzung.

Merkel drückte diesen Widerspruch deutlich zurückhaltender in der Mahnung aus, dass nationales Wohl immer auch vom europäischen Gemeinwohl abhänge. Sie hätte auch sagen können, dass jeder in Europa heute noch die Wahl hat, welchem politischen Pulsschlag er folgen mag. Zäune, so scheint es, wachsen in Europa fast von alleine. Nur wer sie einreißt, wird von der Geschichte gefeiert.

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Quelle:
SZ vom 20.08.2019
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