Süddeutsche Zeitung

Vermisstes Mädchen:Das Wunder vom Böhmischen Wald

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Die Erleichterung ist groß: Nach zwei Tagen findet ein Förster die beim Wandern im Grenzgebiet zwischen Bayern und Tschechien verschwundene Achtjährige. Der Mann, der sich am Ort gut auskennt, wird dort jetzt als Held gefeiert.

Es ist Dienstagmittag, 13.35 Uhr, als Martin Semecký die Achtjährige entdeckt. "Auf einmal stand die kleine Julia vor uns, sie saß etwa zehn Meter weit weg im hohen Gras", erzählt der Mitarbeiter der Forstverwaltung in der tschechischen Stadt Domazlice (Taus) in einem Telefongespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Als er Julias Namen gesagt habe, habe das Kind nur mit dem Kopf genickt. Er habe gesagt: "Alles ist gut, super!" Dann habe er sie in seine grüne Jacke gewickelt und die Einsatzzentrale alarmiert.

"Als wir sie gesehen haben, haben wir unseren eigenen Augen nicht getraut", erzählt Semecký der tschechischen Zeitung Deník. "Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat. Das war ein unglaubliches Gefühl, diese Emotionen kann man gar nicht mit Worten beschreiben." In Absprache mit der Einsatzleitung hatte der Förster gemeinsam mit vier Kollegen einen Teil des Waldes im Grenzgebiet zwischen der Oberpfalz und Tschechien durchkämmt, in dem noch nicht nach dem Mädchen gesucht worden war und das knapp außerhalb des eigentlichen Suchradius lag.

Zwei Tage lang war Julia vermisst worden. Das Mädchen aus Berlin war am späten Sonntagnachmittag verschwunden, als es mit seiner Familie im Böhmischen Wald (Český les; Oberpfälzer Wald) beim Wandern war. Die Eltern hatten das Mädchen, seinen sechsjährigen Bruder und einen neunjährigen Cousin unterhalb des Berges Čerchov aus den Augen verloren und die Rettungskräfte gerufen. Diese fanden zunächst nur den Bruder und den Cousin. Die drei Kinder hatten in dem weitläufigen Gebiet gespielt und waren dabei verloren gegangen. Warum die Kinder sich getrennt hatten, dazu wollte die Polizei nichts sagen. Es wurde spekuliert, sie hätten ein Orientierungsspiel gespielt oder seien in Streit geraten. Vielleicht war es auch einfach nur ein Moment der Unachtsamkeit.

Zwei Nächte bei kalten Temperaturen im Wald

Zwei Nächte verbringt die achtjährige Julia allein in dem riesigen Waldgebiet, die Temperaturen liegen nahe am Gefrierpunkt. Auf der Suche nach ihr läuft den etwa 1400 Rettungskräften die Zeit davon. Die Polizei geht am Dienstag von einer "lebensbedrohlichen und ernstzunehmenden Gefahr" für Julia aus. Noch am Morgen hatte es geheißen, die Chancen des Mädchens würden von Stunde zu Stunde sinken. Doch sie geben die Hoffnung nicht auf.

Am Ende geschieht das Wunder: Semecký, der sich in dem Gebiet gut auskennt, findet das Mädchen nach Polizeiangaben rund dreieinhalb Kilometer entfernt vom Gipfel des Čerchov. Selbst auf direktem Wege muss Julia mehr als zwei Stunden gewandert sein, um zu der Stelle zu gelangen, wo sie gefunden wurde. Doch sie könnte auch längere Zeit im Kreis gelaufen sein. "Vielleicht werden wir es später einmal erfahren", sagt Semecký. "Hauptsache, es ist gut ausgegangen. Sie muss sehr geschickt sein." Einen Kilometer entfernt sprudelt eine Quelle mit Trinkwasserqualität. Doch ob das Mädchen es bis dahin geschafft hat, ist unklar. "Wir wollten sie nicht mit Fragen belasten", sagt der Förster. "Sie wirkte verängstigt, ganz allein im Wald, ohne ihre Eltern."

Später erzählt Julia der Polizei, sie habe nachts auf einer Wiese in hohem Gras geschlafen und dabei auch Tiere wie Rehe, Füchse und ein Wildschwein gesehen, so jedenfalls gibt es ein Sprecher wieder. Weil sie sich nachts im Wald fürchtete, habe sie nicht auf sich aufmerksam gemacht.

Dass das Kind gefunden ist, ist die eine gute Nachricht. Die zweite: "Es geht ihr eigentlich relativ gut", sagte der Sprecher des Polizeipräsidiums Oberpfalz, Josef Weindl, am Mittwoch. Die erste Nacht habe sie in einem Krankenhaus in einem Wärmebett verbracht, weil sie nach den zwei Nächten im Wald unterkühlt gewesen sei. "Sie zeigt äußerlich keine Verletzungen", erklärte Weindl, bis auf einen kleinen Kratzer am Bein. "Sie spricht und ist so weit unauffällig." Am Mittwochmittag konnte Julia das Krankenhaus verlassen.

Das Bayerische Rote Kreuz in Cham schrieb auf Facebook von der größten grenzüberschreitenden Suchaktion, die in der Region je stattgefunden habe. "Dass es gelungen ist, das Kind zu finden, kommt einem Wunder gleich", heißt es in der Mitteilung weiter. Unterstützt wurden die Helfer von 115 Suchhunden, Polizeihubschraubern und Drohnen mit Wärmebildkameras, wie das Polizeipräsidium Oberpfalz mitteilte. Wegen des dicht bewaldeten und unwegsamen Gebiets mit vielen Felsen und Klüften hatte sich der Großeinsatz allerdings mühsam gestaltet. Neben der Polizei waren auch Feuerwehr, Bergwacht, Förster und Nationalpark-Mitarbeiter beteiligt, die sich in solch unwegsamem Terrain auskennen. Aus dem südlichen Oberbayern reiste sogar eine Alpine Einsatzgruppe der Polizei an.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) dankte nach dem Erfolg allen Helfern: "Wir haben alles mobilisiert, Bereitschaftspolizei, Hundestaffeln, Hubschrauber mit Wärmebildkameras, Drohnen und Suchtrupps der Alpinen Einsatzgruppe. Letztlich war es dann ein Quäntchen Glück, dass ein in die Suchaktion eingebundener tschechischer Förster das Mädchen gefunden hat."

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