Süddeutsche Zeitung

Sunil Tripathi und der Boston-Anschlag:Hauptverdächtiger für wenige Stunden

Lesezeit: 3 min

Sunil Tripathi, Student aus Rhode Island, ist seit einem Monat spurlos verschwunden. Als das FBI Fotos der mutmaßlichen Attentäter von Boston zeigt, wird aus dem Vermissten plötzlich ein Verdächtiger. Wie sich ein Gerücht im Netz verselbständigte - um schließlich doch widerlegt zu werden.

Von Tobias Dorfer und Jakob Schulz

Nur mal angenommen, Sunil Tripathi wäre in dieser Nacht in den USA auf die Straße gegangen. Oder er hätte sein Handy angeschaltet, auf Twitter gestöbert oder im News-Aggregator Reddit - er hätte wohl den Schrecken seines Lebens bekommen. Denn für einige Stunden kursierte sein Name als Verdächtiger im Netz: Sunil Tripathi, 22, sollte einer der beiden Bombenleger von Boston sein.

Niemand weiß derzeit, wo sich Tripathi aufhält, ob er tot ist oder lebt. Der Student der Brown University in Rhode Island war am 16. März spurlos verschwunden. Seitdem sucht seine Familie nach ihm, richtete eine Suchseite bei Facebook ein und stellte einen Aufruf auf die Videoplattform Youtube. Die Botschaft: Sunny, komm zurück! Wir vermissen dich!

Doch Sunil Tripathi, der Berichten zufolge an Depressionen gelitten haben soll, meldet sich nicht. Die Polizei fand laut CNN sein Handy, sein Portemonnaie und einen Abschiedsbrief. Medien berichteten über das Schicksal der Familie, zunächst häufiger, dann immer seltener. NBC Philadelphia stellte am Dienstag vor einer Woche das Suchvideo der Familie auf seine Internetseite. Dann passierte zunächst nichts mehr.

Am Montag explodierten Bomben beim Boston-Marathon, drei Menschen starben, mehr als 170 wurden - teilweise schwer - verletzt. Donnerstagabend schließlich veröffentlichte das FBI Bilder, auf denen zwei junge Männer zu erkennen sind. Ein etwas schärferes Bild von einem der mutmaßlichen Täter entstand per Zufall. Ein Besucher des Boston-Marathons hatte eine Aufnahme mit seinem Smartphone gemacht.

Schnell entbrennt an diesem Donnerstagabend auf Reddit eine Diskussion darüber, ob es sich bei dem "Verdächtigen Nummer zwei", einem Mann mit weißer Baseball-Kappe, um den verschwundenen Studenten Sunil Tripathi handelt. Nutzern war aufgefallen, dass sich die Bilder des mutmaßlichen Attentäters und Tripathis ähnelten.

Auf Twitter meldet sich Kevin Michael zu Wort, Kameramann des TV Senders WFSB, Channel 3. Michael schreibt, im Polizeifunk seien die Namen der beiden mutmaßlichen Verdächtigen genannt worden: Mike Mulugeta und Sunil Tripathi.

In der Tat - die vom FBI und einem Augenzeugen veröffentlichten Bilder der angeblichen Verdächtigen zeigen eine gewisse Ähnlichkeit. Tausende Tweets werden in den nächsten Stunden durchs Internet gejagt. Newsseiten stellen Porträts von Sunil Tripathi online. Plötzlich ist die Facebook-Seite, mit deren Hilfe nach ihm gesucht werden soll, nicht mehr aufzurufen. Dann wird in Boston einer der beiden mutmaßlichen Attentäter erschossen. Der zweite Verdächtige ist weiterhin auf der Flucht.

Viele Kommentatoren sind überzeugt davon, dass es sich bei dem Attentäter, der auf dem Fahndungsfoto ein weißes Baseball-Käppi trägt, um Sunil Tripathi handelt. "Wenn Du gerade auf Twitter bist und siehst, wie wir auf deinen Tod warten, beeil dich, ich will schlafen", schreibt ein Nutzer.

Nur vereinzelt warnen Nutzer vor voreiligen Schlüssen. Ein Nutzer, der sich "David D." nennt, sagt, er sei mit Tripathi zur Schule gegangen. "Die Verdächtigen auf den Bildern sehen nicht so aus wie Tripathi", schreibt er auf Twitter.

Offiziell gibt das FBI keine Namen an die Öffentlichkeit. Um kurz nach 13 Uhr deutscher Zeit melden die Nachrichtenagentur AP und mehrere US-Sender jedoch plötzlich, bei den beiden Verdächtigen handele es sich um Brüder aus Tschetschenien, die legal in den USA lebten. Dann veröffentlicht die Polizei von Boston auf Twitter einen offiziellen Suchaufruf: Gefahndet wird nach Dzhokhar Tsarnaev aus Cambridge.

Plötzlich dreht sich auch die Stimmung in den sozialen Medien. Wütende Tweets füllen die Timelines.

Und auch Kameramann Michael wird angefeindet - und wehrt sich:

Auch auf Reddit taucht die Entschuldigung eines Moderators auf:

"I'd like to extend the deepest apologies to the family of Sunil Tripathi for any part we may have had in relaying what has turned out to be faulty information. We cannot begin to know what you're going through and for that we are truly sorry. Several users, twitter users, and other sources had heard him identified as the suspect and believed it to be confirmed. We were mistaken. This event shows exactly why the no personal information until confirmation rule is in place. Out of respect for Tripathi and his family, I ask that user here please remove any and all links about him. Thank you."

Spätestens jetzt ist Sunil Tripathi rehabilitiert. Seine Familie ist erleichtert. Die Suchseite auf Facebook ist inzwischen wieder aufrufbar. Dort haben Sunils Angehörige eine Botschaft hinterlassen:

"A tremendous and painful amount of attention has been cast on our beloved Sunil Tripathi in the past twelve hours. We have known unequivocally all along that neither individual suspected as responsible for the Boston Marathon bombings was Sunil. We are grateful to all of you who have followed us on Facebook, Twitter, and Reddit -supporting us over the recent hours. Now more than ever our greatest strength comes from your enduring support. We thank all of you who have reached out to our family and ask that you continue to raise awareness and to help us find our gentle, loving, and thoughtful Sunil."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1653521
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.