Süddeutsche Zeitung

Repräsentative Studie belegt Rückgang der Fälle:Sexueller Missbrauch - wer die Täter wirklich sind

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Alles wird immer schlimmer? Der Eindruck trügt. Erstmals seit fast zwei Jahrzehnten liefert eine Studie repräsentative Zahlen zum sexuellen Missbrauch in Deutschland. Sie gibt Anlass zur Hoffnung - und räumt mit vielen Vorurteilen auf. Anders als die Skandale um Übergriffe in kirchlichen Einrichtungen und Schulen nahelegen, kommen die Täter meist aus der Familie und dem Freundeskreis.

Roland Preuß

Kinder und Jugendliche werden heute deutlich seltener sexuell bedrängt oder vergewaltigt als noch vor 20 oder 30 Jahren. Das ist eine der positiven Botschaften aus der Studie zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) und Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) am Dienstag in Berlin vorgestellt haben. Die Studie wurde vom Bundesbildungsministerium gefördert. Sie gilt als erste repräsentative Befragung zum Thema seit der ähnlich angelegten KFN-Studie von 1992.

Demnach haben 6,4 Prozent der befragten Frauen und 1,3 Prozent der befragten Männer angegeben, als Kind oder Jugendlicher sexuell angegangen worden zu sein ("sexueller Missbrauch mit Körperkontakt"). Vor 20 Jahren, als die Befragung zum ersten Mal vorgenommen wurde, hatten noch 8,6 Prozent der Frauen und 2,8 Prozent der Männer mindestens einen Missbrauch erlitten - ein deutlicher Rückgang, bei den männlichen Befragten sogar um mehr als die Hälfte.

Zudem haben sich weniger Erwachsene vor Minderjährigen entblößt, auch hier ergab die Befragung eine starke Abnahme des Anteils der Betroffenen von 8,9 auf 5,7 Prozent bei Mädchen und 2,9 auf 1,4 Prozent bei Jungen.

Für die Studie hatte das KFN Anfang dieses Jahres bundesweit gut 11.400 Bürger zwischen 16 und 40 Jahren anonym per Fragebogen um Auskunft gebeten über ihre Missbrauchserfahrungen bis zum 16. Lebensjahr. 683 von ihnen gaben an, in diesem Alter mindestens einmal sexuellen Missbrauch erlitten zu haben, meist ging es dabei um körperlichen sexuellen Kontakt, gefolgt von Exhibitionismus.

Als mögliche Ursache für den Rückgang sehen die Forscher, dass die Opfer häufiger als früher bereit sind, den Täter anzuzeigen. Darauf deutet eine Analyse der Antworten nach Altersgruppen hin.

Die heute 31- bis 40-Jährigen hatten sich nach sexuellen Übergriffen je nach Art des Übergriffs höchstens in jedem achten Fall an staatliche Ermittler gewandt. Diese Angaben beziehen sich auf Geschehnisse in den 1980er Jahren. Die heute 16- bis 20-Jährigen gingen diesen Weg im Schnitt in jedem dritten Fall. Die Täter werden also häufiger gestoppt und haben ein größeres Risiko, es mit dem Staatsanwalt zu tun zu bekommen. Dennoch erfahren die Ermittler von zwei Dritteln aller Fälle weiterhin nichts.

Anders als die jüngsten Skandale um Übergriffe in kirchlichen Einrichtungen, in Schulen und Internaten nahelegen, kommen die Täter meist aus der Familie und aus dem Freundes- und Bekanntenkreis.

Unter den Tätern: Wenig Geistliche

Am häufigsten wurden Bekannte genannt, etwa der Nachbar also, der auf die Tochter aufpasst, aber auch (vermeintliche) Freunde der Familie und der Onkel. Die Fälle, die regelmäßig die größten Schlagzeilen hervorrufen - der Missbrauch durch einen Unbekannten, der die Kinder im Freien abpasst oder entführt, rangiert dagegen hinter den beiden anderen Personengruppen.

Auffällig ist, dass der Missbrauch in der überwältigenden Zahl der Fälle durch Männer begangen wurde, Frauen spielen eine völlig untergeordnete Rolle, am ehesten noch, wenn sie dem Opfer nicht bekannt sind (siehe Grafik).

Positiv werten die Kriminologen um den KFN-Direktor Christian Pfeiffer, dass die Gewalt innerhalb der Familien zurückgegangen sei. Kinder, die geschlagen und vernachlässigt würden, "landen auf der Suche nach Zuwendung nicht selten außerhalb der Familie auf dem falschen Schoß", sagte Pfeiffer. Wer nicht genug elterliche Liebe erhalte, trage ein höheres Missbrauchsrisiko. Er führt die Entwicklung deshalb auch darauf zurück, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr schlagen dürfen, das entsprechende Züchtigungsrecht wurde Anfang 2000 abgeschafft.

Bemerkenswert ist angesichts der vergangenes Jahr losgetretenen Skandale um Schulen, dass Mädchen relativ häufig Lehrer als "bekannte Täter" eingestuft haben. Übergriffe bei Sport und Freizeit wurden dagegen selten genannt, ebenso Geistliche: Nur ein einziger Befragter erwähnte einen katholischen Priester als Täter.

Laut Pfeiffer ist der Missbrauch vor allem in den Familien zurückgegangen. "Das Risiko von Missbrauch außerhalb der Familie, also der Täter hinterm Busch, ist gleich geblieben", sagte er. 20 Prozent der Befragten kaman aus Zuwandererfamilien, wobei türkische Mädchen deutlich seltener vom Missbrauch berichteten als russlanddeutsche oder deutsche. Pfeiffer vermutet, dass die Mädchen "stärker behütet" aufwachsen und damit besser vor Übergriffen Außenstehender geschützt sind.

Schavan sagte, die öffentliche Debatte über dieses Thema werde Betroffene darin bestärken, die Taten anzuzeigen. Schavan hatte die Studie im Zuge des Runden Tischs gegen sexuellen Missbrauch in Auftrag gegeben. Die Bundesregierung hatte das Gremium im April 2010 ins Leben gerufen, nachdem in kirchlichen und dann auch in weiteren Einrichtungen viele Missbrauchsfälle bekannt geworden waren.

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