Süddeutsche Zeitung

Stilkritik:Weinen

Es ist zum Heulen: So viel öffentliches Gejammer wie in den ersten Tagen dieses Jahres gab es noch nie.

Von Martin Zips

Das neue Jahr zählt nur wenige Tage, doch geweint wurde schon, dass es echt zum Heulen ist. Da gab es den norwegischen Skispringer Tande, der direkt neben der Schanze in Bischofshofen schluchzte, weil sich seine Bindung gelöst hatte. Die Kardashian wiederum weinte in eine Fernsehkamera, als sie über den Pariser Raubüberfall auf sich berichtete. Meryl Streep weinte, als sie auf der Golden-Globe-Gala die Widerwärtigkeiten dieses einen Politikers anprangerte - da weinten wir zu Hause mit. Ebenso wie mit Obama, als er sich als Präsident verabschiedete. Und nun weinte auch Joe Biden, als er vom Chef noch etwas umgehängt bekam. Weint bald Trump auf seiner eigenen Inauguration?

Über das Lachen gibt es viele Bücher. Über das Weinen nur wenige. Fest steht, dass wir uns derzeit in einem recht wässrigen Zeitalter befinden. Ein Umstand, der eher an die Romantik erinnert als an die französische Klassik. In ihr galt Schluchzen noch als Makel. Heute aber geht öffentliches Flennen - Sportlern, Schauspielern, Politikern und Gender-Forschern sei Dank - absolut in Ordnung. Dass Tränen das Gehirn trüben (Brecht) oder nicht mehr sind als nur Mitleid mit sich selbst (Schopenhauer), das würde heute selbst ein Freizeitboxer nicht mehr unterschreiben. Eher gelten Tränen als "Samen der Hoffnung" (Franziskus). Doch Vorsicht: Nicht jeder im Rampenlicht vergossene Tropfen ist auch wirklich echt. Tränen können auch nur ein Trick sein. Krokodile, so glaubte man im Mittelalter, locken womöglich damit ihre Nahrung an.

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Quelle:
SZ vom 14.01.2017
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