Süddeutsche Zeitung

Stilkritik:Schummeln

Wenn der Wille stark, aber das Fleisch schwach ist: In China wurden mehr als 200 Läufer überführt, die beim Halbmarathon eine Abkürzung genommen hatten.

Von Oliver Klasen

Früher war das Tricksen, Pfuschen und Schummeln einfach. Zwar bestand der strenge Englischlehrer Herr Weinelt darauf, dass "Schamblenden" (so nannte er das wirklich) in der Bankmitte platziert wurden. Doch mit Glück akzeptierte der Studiendirektor statt des Diercke-Weltatlasses einen kleineren Hefter, an dem vorbei man einen Blick riskieren konnte. Inhaltlich brachte das Schummeln wenig, aber es vermittelte eine Lektion fürs Leben: Das spielerische Austesten von Grenzen. Heute gibt es elektronische Systeme, die Pfuschversuche gnadenlos vereiteln, etwa in Shenzhen in China. Dort sind aufgrund von Überwachungsvideos mehr als 200 Läufer disqualifiziert worden, weil sie am Sonntag beim Halbmarathon eine Abkürzung genommen hatten. Manche waren sogar so dreist, andere für sich laufen zu lassen. Ihr Tun ist Ausdruck der Verzweiflung des modernen Menschen, dessen Willen stark, aber dessen Fleisch zu schwach ist, um sich die 21,0975 Kilometer in einer auf Instagram oder anderen Selbstdarstellungsmedien präsentablen Zeit abzutrotzen. Schlimmer als die Strafe des Wertungskomitees dürfte ohnehin die Ächtung in der Marathon-Community sein. Trainiere hart und du wirst belohnt - diese heilige Regel haben die Läufer entweiht. Hätten wir gewusst, dass es einmal so ernst wird, wir hätten nie einen Blick hinter Herrn Weinelts Schamblende gewagt.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2018
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