Süddeutsche Zeitung

Mordprozess nach Tod von Kita-Kind:"Sie ist unheimlich gerne in die Kita gegangen"

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Greta starb einen Tag nach ihrem dritten Geburtstag, ihre Erzieherin soll sie während des Mittagsschlafs erstickt haben. Nun hat der Prozess begonnen.

Von Jana Stegemann, Mönchengladbach

"Greta war ein ganz fröhliches und lebenslustiges Kind, das unheimlich gerne in die Kita gegangen ist", sagt Rechtsanwältin Marie Lingnau vor dem Eingang des großen Schwurgerichtssaals A 100 des Landgerichts Mönchengladbach, sie vertritt die Mutter des kleinen Mädchens vor Gericht. Denn Greta lebt nicht mehr - ihre Erzieherin Sandra M. soll die damals Zweijährige während des Mittagsschlafs in einer Kita in Viersen erstickt haben. Dann alarmierte sie ihre Kolleginnen. Sie bekomme das Mädchen nicht mehr wach, soll Sandra M. gesagt haben. Das Mädchen konnte zwar von Rettungskräften reanimiert werden, starb aber zwei Wochen später, einen Tag nach seinem dritten Geburtstag, an einem durch Sauerstoffmangel ausgelösten Hirnschaden in einer Klinik. Mord aus Heimtücke wirft die Staatsanwaltschaft der 25 Jahre alten Erzieherin Sandra M. laut Anklage vor; Heimtücke deshalb, weil die Angeklagte das Mädchen im Schlaf attackiert haben soll.

Ein weiterer Anklagepunkt: Misshandlung von Schutzbefohlenen in acht Fällen. Denn Greta ist nicht das einzige Kita-Kind, dessen Brustkorb Sandra M. mit massiver Gewalt zusammengedrückt haben soll; sie ist aber das einzige Kind, das diesen Angriff nicht überlebt hat.

Immer wieder litten Kinder plötzlich unter Atemstillstand

Gretas Tod löste im vergangenen Frühling bundesweit Entsetzen aus. Ermittler der Mordkommission stießen bei der Untersuchung von Sandra M.s Vergangenheit auf drei weitere nordrhein-westfälische Kitas, in Tönisvorst, Krefeld und Kempen. In allen Einrichtungen litten Kleinkinder unerklärlich, plötzlich und wiederholt unter Atemnot bis hin zum Atemstillstand - immer wenn Sandra M. Dienst hatte. Achtmal habe sie in den verschiedenen Einrichtungen Alarm geschlagen, "weil etwas nicht stimmte". Jedes Mal kam schnell ein Notarzt, die Kinder überlebten. In diesen Fällen wurde jetzt ebenfalls Anklage gegen Sandra M. erhoben, es geht um zwei Jungen und ein weiteres Mädchen. Der Vorwurf jeweils: Die Erzieherin habe stets den Brustkorb der Kinder fest zusammengedrückt, entweder während des Mittagsschlafs oder beim Wickeln in einem unbeobachteten Moment.

Ihren Vorgesetzten und Kolleginnen fiel die mutmaßliche Gewalt nie auf, nur in einer Sache waren sich alle einig: Sandra M. war nicht geeignet als Erzieherin, ihr habe die Empathie für Kinder gefehlt. Der Tag, an dem sie Greta tödlich verletzt haben soll, war Sandra M.s letzter Arbeitstag in der Kita. Sie hatte bereits gekündigt.

"Gretas Mama erhofft sich von dem Prozess eine Erklärung dafür, warum Greta gerade an dem Ort, den sie so sehr mochte und an dem sie ja besonders geschützt war, sterben musste", sagt Anwältin Lingnau. Greta war an dem Tattag im April wegen der Corona-Pandemie in der Notbetreuung der Kita "Am Steinkreis" im nordrhein-westfälischen Viersen untergebracht; ihre Mutter ist alleinerziehend.

Als die Fotografen und Kamerateams noch im Gerichtssaal sind, hält Sandra M. sich einen roten Papphefter vors Gesicht, ihre beiden Verteidiger stehen wie menschliche Schutzschilde vor der jungen Frau. Nachdem die filmenden und fotografierenden Journalisten den Saal verlassen haben, betritt Gretas Mutter durch eine Seitentür den Raum, eine Opferschutzmaßnahme des Gerichts.

Sandra M. sitzt in sich zusammengesunken hinter ihren Verteidigern auf der Anklagebank, neben ihr eine Wachtmeisterin. Die junge Frau aus Kempen macht sich noch kleiner, als sie ist, es sieht aus, als krieche sie immer tiefer in ihr olivgrünes Zopfmuster-Wollkleid und ihre Maske hinein. Mit ihrem mädchenhaften runden Gesicht und den langen dunklen Haaren wirkt sie jünger als 25 Jahre. "Tun Sie mir einen Gefallen und nehmen Sie die Maske ab!", sagt der Vorsitzende Richter Lothar Beckers zu Sandra M. Sie gehorcht sofort, senkt den Blick. Auf die wenigen Fragen zu ihrer Person antwortet sie mit einem kurzen, hellen "Ja".

Die Angeklagte muss die Maske ausziehen, damit der Richter die Mimik sehen kann

Trotz der Pandemie und eines Inzidenzwertes von 200 in Mönchengladbach tragen im Gerichtssaal nur Zuschauer, Journalisten und Wachtmeister Masken. Ein übliches Vorgehen an deutschen Gerichten, auch im November, dem Monat der Kontaktbeschränkungen. Erklärt wird diese Praxis unter anderem damit, dass Kammer und Sachverständige auch die Mimik der Angeklagten in ihr Urteil einbeziehen müssen und sollen.

Zwölf Minuten dauert der erste Prozesstag am Landgericht. Zwölf Minuten sitzt Gretas Mutter der ehemaligen Erzieherin ihrer Tochter gegenüber. Zwei Plexiglasscheiben und wenige Meter trennen die beiden Frauen voneinander. Nach der Anklageverlesung beginnt Sandra M. zu weinen, sie wird aus dem Saal gebracht. Am Donnerstag will sie Fragen zu ihrer Person beantworten, und ihre Verteidiger wollen eine kurze Erklärung abgeben.

Bis Anfang März sind 19 Verhandlungstage geplant, mehr als 20 Zeugen will das Gericht befragen. Marie Lingnau sagt über Gretas Mutter: "Meine Mandantin sagt, sie lebt nicht, sie existiert." Doch Greta habe noch zwei Brüder, "die ihre Mama gerade noch mehr brauchen als jemals zuvor".

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