Süddeutsche Zeitung

Mikrozensus:Jeder Fünfte in Deutschland hat ausländische Wurzeln

Lesezeit: 4 min

Noch nie haben in Deutschland so viele Menschen mit Migrationshintergrund gelebt wie im vergangenen Jahr. Was bedeutet das?

Von Kerstin Lottritz

18,6 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Dem Statischen Bundesamt zufolge hatten im vergangenen Jahr 8,5 Prozent mehr Menschen ausländische Wurzeln als noch im Jahr zuvor - so hoch war dieser Anstieg noch nie. Doch wer kommt, wer bleibt und wie kann Deutschland davon profitieren? Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück klärt die wichtigsten Fragen, die sich hinter der Statistik verstecken.

Ist das ein kurzzeitiger Anstieg?

Das Statistische Bundesamt spricht von einem neuen Höchststand. Allerdings werden die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland erst seit 2005 gezählt. Als Ursache für den deutlichen Anstieg machen die Statistiker die hohe Zuwanderung von Ausländern in den Jahren 2015 und 2016, einschließlich der Asylbewerber, aus.

Migrationsforscher Jochen Oltmer erwartet, dass der Anteil der Migranten, insbesondere der Flüchtlinge, in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird: "Die Menschen, die jetzt schon in Notunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen leben, tauchen in dieser Statistik noch gar nicht auf - erst, wenn sie in reguläre Wohnungen gezogen sind, werden auch sie für den Mikrozensus befragt." Gleichzeitig gehen die Flüchtlingszahlen seit dem Frühjahr 2016 wieder zurück. Oltmer: "Es kommen weniger Schutzsuchende zu uns. Aufgrund der globalen Wirtschaftskrise erwarte ich aber, dass der Anteil der ökonomisch motivierten Migranten hoch bleibt."

Von etwa 82,4 Millionen Einwohnern in Deutschland haben 18,6 Millionen (22,5 Prozent) einen Migrationshintergrund. Etwas mehr als die Häfte von ihnen (52 Prozent) hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Die überwiegende Mehrheit der ausländischen Bevölkerung ist zugewandert (85 Prozent), bei den Deutschen mit Migrationshintergrund ist es etwas mehr als die Hälfte (53 Prozent). Die meisten Deutschen mit Migrationshintergrund besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit seit ihrer Geburt (42 Prozent). Sie haben einen Migrationshintergrund, weil mindestens ein Elternteil ausländisch, eingebürgert oder (Spät-)Aussiedler ist.

Woher kommen die Menschen?

Die meisten Zuwanderer kommen nach wie vor aus Europa. Dabei ist die Türkei noch immer das wichtigste Herkunftsland der Bevölkerung mit Migrationshintergrund - sie verliert aber immer mehr an Bedeutung. Mittlerweile haben auch 2,3 Millionen Menschen ihre Wurzeln im Nahen und Mittleren Osten, also beispielsweise im Irak, in Iran oder in Syrien. Das ist ein Zuwachs von fast 51 Prozent im Vergleich zu 2011. Auch die Zuwanderung aus Afrika gewinnt an Bedeutung. Etwa 740 000 Menschen stammen aus afrikanischen Ländern, das sind gut 46 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Die Liste führt dabei Marokko an.

Jochen Oltmer: "Es ist eine sehr heterogene Gruppe von Menschen aus sehr vielen verschiedenen Ländern. Zum Teil sind sie selbst zugewandert, zum Teil schon ihre Eltern und sie wurden in Deutschland geboren. Die Migranten sind im Durchschnitt 35 Jahre alt, also deutlich jünger als die Deutschen ohne Migrationshintergrund, die durchschnittlich fast 47 Jahre alt sind."

Kommen nur ungebildete Migranten nach Deutschland?

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen starke Unterschiede beim Bildungsstand. In der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen haben Menschen mit Migrationshintergrund häufiger keinen Schulabschluss (neun Prozent) als jene ohne Migrationshintergrund (zwei Prozent). Zudem haben Migranten aus dieser Altersgruppe wesentlich häufiger (32 Prozent) keinen beruflichen Abschluss als Menschen ohne Migrationshintergrund (neun Prozent). Dennoch: Beide Gruppen erreichen gleich oft das Abitur (37 Prozent) oder akademische Abschlüsse (27 Prozent).

Innerhalb der Gruppe der Migranten insgesamt fehlt zwar überproportional häufig ein schulischer (zehn Prozent) oder beruflicher (33 Prozent) Abschluss. Allerdings erreichen auch überdurchschnittlich viele das Abitur (39 Prozent) und akademische Abschlüsse (29 Prozent).

Jochen Oltmer: "Es stimmt, dass viele Migranten später zum sogenannten Dienstleistungsproletariat gehören. Sie arbeiten also in Jobs, die nicht so gut bezahlt sind wie etwa in der Pflege, Gastronomie oder als Paketlieferanten." Allerdings gibt es auch viele Zuwanderer, die hier Abitur machen wollen oder einen Beruf erlernen: "Viele sind jung und ungebunden. Auf der Suche nach Bildungschancen kommen sie her, um sich eine Zukunft in ihrem Herkunftsland aufzubauen."

Bleiben die Zuwanderer alle in Deutschland?

Schon vor 20 Jahren hat es in Deutschland eine starke Zuwanderung gegeben. Nach dem Fall der Mauer kamen Anfang der Neunzigerjahre viele Aussiedler, also Menschen mit deutschen Wurzeln, aus ehemaligen Ostblock-Staaten. Diese Zuwanderung macht sich in der Statistik noch immer bemerkbar: Ein Drittel der Deutschen mit Migrationshintergrund sind Spätaussiedler.

Wenn man also die aktuelle Situation mit der von vor 20 Jahren vergleicht, ist zu erwarten, dass ein Großteil der Zuwanderer, die jetzt aus Syrien, Afghanistan und dem Irak gekommen sind, in Deutschland bleiben wird - aber eben nicht alle.

Jochen Oltmer: "Migration ist ein dynamischer Prozess, der von Hin- und Rückwanderung geprägt ist. Beispielsweise zeigen die Zahlen aus dem Jahr 2014, dass auf 1,5 Millionen Zuwanderer auch mehr als 900 000 Abwanderer kommen. Da kann man also nicht von dauerhafter Niederlassung sprechen. Zum Teil werden sie in Deutschland bleiben, aber sehr viele kehren nach einem Arbeitsaufenthalt von einigen Monaten oder Jahren oder nach einem Studium auch wieder zurück in ihre Heimat."

Wie kann Deutschland von den Zuwanderern profitieren?

Betriebe klagen darüber, dass sie Ausbildungsplätze nicht besetzen können und einen Mangel an Fachkräften haben. Die Sozialversicherungen leiden unter dem demografischen Wandel, da die Deutschen nicht mehr so viele Kinder bekommen, die später mal ins Sozialversicherungssystem einzahlen. Die Zuwanderung könnte helfen, diese Lücken zu schließen.

Jochen Oltmer: "Natürlich sind viele Zuwanderer gekommen, um von Deutschlands wirtschaftlicher Stärke zu profitieren. Doch diese Menschen tragen hier auch zu der enormen wirtschaftlichen Dynamik bei. Viele von ihnen arbeiten in Jobs, die sonst niemand machen will. Ich denke, dass schon bald dieser positive Effekt von Zuwanderung wieder stark diskutiert wird."

Was sind die Gefahren innerhalb der Gesellschaft?

Seit es in Europa vermehrt islamistisch motivierte Terroranschläge gegeben hat, wachsen in der Bevölkerung, aber auch in der Politik, allerdings auch Sicherheitsbedenken - vor allem, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Es besteht die Gefahr, dass sich in der Gesellschaft Fremdenfeindlichkeit ausbreitet.

Jochen Oltmer: "In Gesellschaften, in denen der Argwohn gegenüber Zuwanderern von Dauer ist, gibt es starke Tendenzen zur Spaltung der Bevölkerung. Die Integration der Zuwanderer ist dann schwierig, weil es keine Kommunikation und Vernetzung gibt."

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