Süddeutsche Zeitung

Medizin:Letzte Hilfe

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Hannah ist todkrank, jeden Tag verlernt und vergisst die Elfjährige mehr. Es gibt zwar ein Medikament, aber das ist noch nicht zugelassen. Gutachter mussten nun klären: Hat das Mädchen einen Anspruch darauf?

Von Christina Berndt, München

Ein Kind ist todkrank. Und eine Firma, die helfen könnte, tut es nicht. Was bleibt Eltern in so einer Situation? Bitten, flehen, eine Kampagne auf Facebook starten. Und, wenn das alles nichts nützt, könnten sie die Firma dann nicht wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen? Genau das hatte Christian Johnsen gehofft. Der Berliner Pastor ist Vorstand der Hilfsstelle für evangelische Pfarrer, die sich für Theologen in Nöten, aber auch für andere soziale Härtefälle engagiert. Im März hat die Hilfsstelle deshalb beim Bochumer Juraprofessor Stefan Huster ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Huster sollte klären, ob Patienten eine rechtliche Handhabe gegen Pharmafirmen haben, die die Herausgabe lebensrettender, aber noch nicht zugelassener Medikamente verweigern. Dieser Tage wurde das Gutachten nun in Berlin vorgestellt. Das Ergebnis: Man muss akzeptieren, dass die Firma nicht will. Nur in Ausnahmefällen gäbe es vielleicht eine Möglichkeit, sie mit Erfolg zu verklagen. "Das geltende Recht führt nicht zu einer Strafbarkeit, wenn sich ein pharmazeutisches Unternehmen weigert, ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel herauszugeben", heißt es im Gutachten.

Christian Johnsen hatte das Schicksal von Hannah nicht losgelassen. Die Elfjährige aus Bad Tölz leidet an einer Kinderdemenz, kurz NCL2. Fortschreitend zerstört die Krankheit ihr Gehirn, Hannah vergisst und verlernt in jeder Woche mehr. Deshalb versuchten ihre Eltern seit dem Frühjahr 2015 genau das: bitten, flehen, eine Facebook-Kampagne starten. Doch die Firma Biomarin, die ein hochwirksames Medikament gegen Hannahs Krankheit in einer ersten Studie einsetzte, blieb hart. Außerhalb der Studie wollte sie das Medikament nicht herausgeben, obwohl dies nach deutschem Recht im Rahmen eines Compassionate Use (CU) möglich ist, einer Behandlung aus Barmherzigkeit. Sie sorge sich, dass ein CU-Programm "die Zulassung des Medikaments aufhalten" könne, schrieb die Firma. Wenn dabei etwas schiefgehe, gefährde das den Zugang zu dem Medikament "für Patienten in der ganzen Welt".

Zweifelsohne ist CU immer auch mit Risiken verbunden. Für die Firma, aber auch für die Patienten. Nur: Was macht das schon, wenn man so krank ist wie Hannah? Wenn jede Woche Warten den Verlust weiterer Fähigkeiten bedeutet? Für die Firmen hingegen könnten finanzielle Verluste drohen. Und so umfasst die Liste von CU-Programmen in Deutschland derzeit die lächerliche Zahl von neun Medikamenten. Stefan Huster kann sich vorstellen, dass finanzielle Anreize für die Firmen die Situation der Kranken verbessern könnten. In Frankreich, wo die Krankenkassen die Behandlung übernehmen, gibt es zehnmal so viele CU-Programme wie hierzulande. Auch verlangt er eine Gesamtüberprüfung der rechtlichen Situation durch den Gesetzgeber. Man beabsichtige eine solche Evaluierung, teilt das Bundesgesundheitsministerium dazu auf Anfrage mit. Alle Bedenken und Vorschläge würden im Rahmen des Prozesses einbezogen.

Seit Juli steht ein neues Medikament auf der CU-Liste: Brineura, das Mittel, das Hannah helfen könnte. Die Firma hat inzwischen grünes Licht von den Zulassungsbehörden erhalten, dass ihr Medikament im Schnellverfahren zugelassen wird. So konnte sie sich zu einem CU-Programm durchringen. Allerdings erhalten nur ausgewählte Kinder das Medikament. Ob Hannah darunter ist, soll geheim bleiben. Nach welchen Kriterien die Kinder ausgewählt werden, schreibt sie nicht. Nur so viel: Die Entscheidung darüber werde "unabhängig von Biomarin" getroffen. Eben hier sieht Stefan Huster doch noch einen Ansatzpunkt für juristischen Druck: "wenn das ablehnende Verhalten des Unternehmens schlichtweg willkürlich erscheint".

Das möchte Michaela Kirsch vielleicht versuchen. Ihr fünfjähriger Sohn Tobias hat ebenfalls NCL2, die Krankheit ist bei ihm weit fortgeschritten, er kann nicht mehr sprechen und laufen. Gerade hat die Mutter erfahren, dass Tobias nicht in das CU-Programm aufgenommen wird. Weil er zu krank ist. Seine Behandlung könnte dem guten Ruf des Medikaments schaden.

Auch wenn das Gutachten nur begrenzte Möglichkeiten aufzeigt, ist Johnsen guter Dinge: "Der politische Handlungsbedarf ist jetzt klar formuliert", sagt er. "Und dank Hannahs Eltern haben wir nun eine Bewegung, die das einfordert." Bislang hätten es kranke Menschen einfach akzeptiert, wenn ihnen lebensrettende Hilfe verweigert wurde. "Das", sagt Johnsen, "ist jetzt anders geworden."

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Quelle:
SZ vom 04.10.2016
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