Süddeutsche Zeitung

Klangforschung:Der Weltlauscher

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Ein Donner in Europa klingt ganz anders als ein Donner am Äquator. Sagt Bryan Pijanowski, und der muss es wissen: Der US-Professor hat mehr als vier Millionen Geräusche aufgenommen - um Menschen die Ohren zu öffnen.

Von Jürgen Schmieder

Wer wissen will, wie weit sich die Menschen mittlerweile entfernt haben vom Planeten, auf dem sie leben, der sollte zum Beispiel einen Nachmittag in New York City verbringen und sich dabei nicht einschüchtern lassen von den riesigen Gebäuden. Flanieren, stehen bleiben, die Augen schließen und auf die Geräusche achten: die Bass-Mischung aus Lüftungen, Klimaanlagen und Motoren, Sirenen, Hupen, Handy-Gebimmel; das Rattern der U-Bahn, auf den Gehsteig platschende Müllsäcke, das Scheppern von Besteck. Natürliche Geräusche außer dem Gebrabbel der Leute, das von der Bass-Mischung aufgesaugt wird: ein bellender Hund und Wind zwischen Häuserschluchten.

"Es dürfte Menschen geben, die in ihrem Leben kaum ein natürliches Geräusch hören", sagt Bryan Pijanowski. Auf seiner Visitenkarte steht "Professor für Klangökologie" an der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana. Den Begriff "Weltlauscher" findet er durchaus passend. Er hat mehr als vier Millionen Geräusche aufgezeichnet, er will nun aus Veränderungen über die Jahre hinweg die Konsequenzen erklären. "Wir waren jahrhundertelang mit der Umgebung verbunden und haben Klänge zur Orientierung und zum Überleben genutzt. Diese Fähigkeit ist uns abhanden gekommen", glaubt Pijanowski. Die Stadt, so seine These, trenne einen von der Natur, und weil es dort vergleichsweise weniger Geräusche mit wichtigen Informationen gebe, "stecken wir uns Stöpsel in die Ohren und kapseln uns noch weiter ab".

Pijanowski ist ein hemdsärmeliger Typ, an den Schultern beinahe so breit wie hoch (er ist sehr hoch), er nennt sich selbst einen "Forscher aus dem 19. Jahrhundert, ausgestattet mit Werkzeugen aus diesem Jahrtausend", und wie jeder Mensch, der seine Berufung gefunden hat, kann er leidenschaftlich über diese Berufung reden: "Ich war an entlegenen Orten, an denen man mehr als 400 Spezies gleichzeitig hören kann, dazu Tausende Geräusche wie Gräser und Bäume, Regen und Stürme. Es ist mein Ziel, die Leute wieder mit diesem Planeten zu verbinden. Klang gab es in unserem Universum schließlich 300 000 Jahre vor Licht, und wir dürfen nicht vergessen: Alles, was sich bewegt, erzeugt ein Geräusch - und alles in diesem Universum bewegt sich."

Man kann sich vorstellen, wie sich Pijanowski im Indiana-Jones-Outfit durch Patagonien kämpft, um auf einem Gletscher ein Mikrofon zu installieren, das ein Jahr lang zu jeder vollen Stunde eine Minute lang Geräusche aufzeichnet. Wie er den wackligen Turm auf der südostasiatischen Insel Borneo besteigt und eine Nacht lang einfach nur lauscht. Wie er alleine ("ich will keine störenden Geräusche hören") und mit allerhand Geräten durch den Regenwald in Südamerika pilgert und tagelang darauf wartet, den Sound eines Gewitters zu erleben. Das, sagt er, sei übrigens das faszinierendste Geräusch der Welt.

"Hmmmmmm", brummt er, so wie Bud Spencer brummt, wenn er kolossal genervt ist. In der Nähe des Äquators gibt es keine kalte und warme Luft, die sich vermischen kann, also ist Donner dort ein dumpfes Rollen. "In Europa und Nordamerika gibt es das Geräusch, das die meisten kennen", sagt er und macht: "Kchchchch, bumm, peng, rrrrrrrr". In Alaska dagegen: ein Heulen, als würde jemand aus tiefster Seele seufzen und sämtlichen Schmerz der Welt ausatmen, "Aaaaaaaaah". Das Geräusch in der Wüste könne er nicht reproduzieren, das müsse man schon selbst erleben.

Der erste Kontakt zur Außenwelt im Leben eines Menschen sei die Stimme der Mutter, lange vor der Geburt; der letzte Sinn, der vor dem Tod den Dienst aufgebe, sei das Gehör. Dennoch habe der Mensch die Fähigkeit des Zuhörens verloren, nicht nur in politischen und gesellschaftlichen Debatten, bei denen so viele Leute noch nicht einmal darauf warten, bis sie endlich wieder selbst dran sind mit Reden. Das will Pijanowski ändern, er hat den Film "Global Soundscapes" gedreht, der nun in Nordamerika gezeigt wird und dann auch in deutsche IMAX-Kinos kommen soll.

"Geräusche sorgen für Erinnerungen, aber auch für Emotionen", sagt Pijanowski, der den Film wie auch seine Forschung als interaktives Erlebnis gestaltet. Die Leute sollen fühlen, was mit ihnen passiert, wenn alle im Kinosaal zu lachen beginnen. Wenn sie ein Lied hören, das sie aus ihrer Kindheit kennen. Wenn sie die Geräusche herumtollender Tiere wahrnehmen - und dann aufgrund der Stille bemerken, dass diese Tiere ausgestorben sind. "Man kann das alles auch anhand von Daten und Graphen zeigen", sagt er: "Das Erlebnis wird aber ein anderes, wenn man mit den eigenen Ohren hört, dass mit diesem Planeten etwas nicht stimmt."

Klangökologie ist eine recht junge Wissenschaft, Pijanowski sagt selbst: "Es gibt nicht viele Typen wie mich." Das hat lange Zeit auch daran gelegen, dass es sehr mühsam und bisweilen auch ineffizient gewesen ist, Geräusche an möglichst verschiedenen Orten der Welt aufzuzeichnen: "Vor 15 Jahren gab es einen Laptop und ein Aufnahmegerät, das nur 30 Minuten lang funktionierte", sagt Pijanowski. Nun verwendet er Geräte, die 48 000 Geräusche pro Sekunde aufnehmen und deren Batterien ein Jahr lang halten wie das auf dem Gletscher. Daten lassen sich schneller übermitteln und mit Hilfe von künstlicher Intelligenz präziser auswerten: "Wir müssen nicht mehr alles selbst abhören, sondern haben Geräte über Algorithmen darauf trainiert."

Die Erforschung von Geräuschen spielt mittlerweile eine wichtige Rolle zum Beispiel bei der Migration von Tieren, dem Wachstum von Pflanzen oder der Bewertung kompletter Ökosysteme. In Kombination mit anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen lassen sich zum Beispiel präzise Prognosen über Wirbelstürme im Mittleren Westen der USA erstellen, die bisweilen sehr gefährlich werden können. "Wir können rote Fäden erkennen und die Daten mit Kollegen anderer Gebiete abgleichen", sagt er.

Pijanowski will die Leute nicht nur zum Zuhören verführen und zum Hinausgehen in die Natur, sondern auch zum Umdenken. Die Leute sollen ihm Geräusche von überall schicken, "wir hören alles an und werten alles aus". Der Forscher aus dem 19. Jahrhundert kann aufgrund der Werkzeuge aus diesem Jahrtausend wichtigen Fragen nachgehen: Wann kehren Tiere nach Bränden wie denen in Kalifornien zurück in die Gegend? Was passiert mit Pflanzen nach einem Wirbelsturm? Oder, passend zur Klimawandel-Debatte: Warum sind im Bundesstaat Illinois, wo Pijanowski seit zwölf Jahren Geräusche aufzeichnet, im Juli Wandertiere wie etwa Vögel zu hören, die sich von der Sonne leiten lassen, aber in diesem Jahr keine Zikaden, die sich an der Temperatur orientieren? Und, die übergeordnete Frage bei alledem: Was hat der Mensch damit zu tun?

Pijanowski wird weiterhin hinausgehen in die Natur, es gibt da noch ein paar Gebiete, die er selbst noch nicht ausreichend gehört hat: Mangroven zum Beispiel, diese Salzpflanzen, die in tropischen Küstenregionen zu bestaunen sind. Die Tundra ("windig und kalt, es gibt kaum Bäume, ein Donner sollte dort sehr elektrisch klingen") oder auch Nadelwälder. Was Pijanowski auf jeden Fall gelingt: Wer sich mit ihm unterhält oder den Film sieht, der will sofort selbst hinaus in die Natur, Tiere hören und Gräser, und natürlich das Geräusch von Donner. Am Strand von Kalifornien klingt es übrigens wie ein gezogenes Lichtschwert, gefolgt von einem lauten Grollen: "Pich-wrrrrrrrr."

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Quelle:
SZ vom 26.09.2019
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