Süddeutsche Zeitung

Kindermord:Im Widerstreit der Wunschbilder

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Wer ist Magnus G., der Mörder des kleinen Jakob von Metzler? - "Ich bin ein relativ unsicherer, zaghafter Mensch". Der Psychiater sieht ihn als gewöhnlichen Kriminellen und er sich als Opfer seines eigenen Plans -Einblicke in ein aufwühlendes Verfahren.

Detlef Esslinger

(SZ vom 2.7. 2003) - Ob der Angeklagte sich jetzt entlarvt fühlt? Oder einfach nur unverstanden? Auf dem Zeugenstuhl sitzen an diesem Vormittag nacheinander die beiden Sachverständigen und tragen ihre Gutachten vor.

Fünf Tage lang haben sie mit Magnus G. gesprochen. Sie haben einen jungen Mann erlebt, der freundlich und zugewandt war, so, wie er sich auch selbst in diesem Gerichtssaal darstellte, einen, der nicht die landläufige Vorstellung eines Kindsmörders erfüllte, vielmehr am Ende eines Gesprächs voller Verzweiflung den Psychiater Norbert Leygraf fragte, ob er sich das vorstellen könne: dass man Dinge tue, die man nie von sich gedacht habe.

Und jetzt sitzen diese Sachverständigen hier, auf deren Erklärung der Angeklagte vielleicht auch gehofft hat - und sehen ihn als ganz gewöhnlichen Kriminellen.

Ist das der Schlag, der ihn im Innersten erschüttern muss, den 28-Jährigen aus bürgerlichem Haus, den Jura-Studenten, der in der Haft das Erste Staatsexamen abgelegt hat?

Wer in der Mimik von Magnus G. zu lesen versucht, wird allerdings nicht fündig. Immer nur geradeaus schaut der Angeklagte, an diesem Verhandlungstag wie an allen anderen, das Kinn in die Grube zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt, in seinem Stuhl ein wenig hängend.

Als der Psychiater Leygraf eingangs sein Alter mit 52 angibt, sich aber auf 50 korrigiert, lachen alle herzlich im Saal. Nur in Magnus G.'s Gesicht regt sich nichts.

Lustig, nett und hilfsbereit

Fast drei Monate dauert vor dem Frankfurter Landgericht nun der Prozess um die Entführung und Ermordung des Bankierssohns Jakob von Metzler.

Nicht deshalb, weil das Verbrechen nur schwer aufzuklären gewesen wäre. Im Gegenteil, der Angeklagte hat es ja längst in allen Einzelheiten geschildert.

Viel Zeit ist deshalb nötig, weil das Gericht die Freunde und Bekannten von Magnus G. hören wollte und den Sachverständigen vier Wochen Pause für ihr Gutachten geben musste - weil also im Mittelpunkt dieses Verfahrens der Täter steht, mehr als die Tat.

Wer ist Magnus G.? Das ist die Frage, um die es geht und über die der Verteidiger Hans-Ulrich Endres sagt, dass sie ihn nachts wach liegen lässt: "Wie können wir die Tat mit dieser Täterpersönlichkeit in Einklang bringen?" Von deren Beantwortung wird am Ende auch das Urteil abhängen.

Der Angeklagte, der in den meisten Medien längst mit seinem vollen, nicht besonders häufigen Nachnamen genannt wird, was seiner Familie Belästigung eingebracht hat, dieser Angeklagte also hat ausführlich Auskunft über sein Leben gegeben.

Er hat sich als jemanden beschrieben, zu dessen Grundschwierigkeit stets der Umgang mit Konflikten gehörte.

Zu Hause war der Vater Alkoholiker. Aber die Harmoniesucht der Mutter erstickte alle Diskussionen. In der Schule wurde er gehänselt und ging dem Problem aus dem Weg, indem er die siebte Klasse freiwillig wiederholte.

"Ich bin ein relativ unsicherer, zaghafter Mensch", sagt Magnus G. einmal und erwähnt auch, dass er mit 19 Jahren den Kriegsdienst verweigerte. "Ich bin... kein...schwer zu sagen...aggressiver oder gewalttätiger Mensch", haspelt er, schließlich lautet die Anklage ja auf Mord.

Eigentlich verachte er jede Form von Gewalt.

Es sind Freunde aufgetreten, die diese Selbsteinschätzung durchaus bestätigt haben. Einer, 17 Jahre alt, wird vom Vorsitzenden Richter Hans Bachl gefragt: "Was gefällt Ihnen an ihm?" Der junge Mann antwortet: "Er ist lustig, nett. Hilfsbereit." Magnus holte ihn von der Schule ab, fuhr ihn nach Hause. "Konnte man ihn ausnutzen?" - "Wenn man's richtig angestellt hätte, schon."

Wie nur ist so einer zum Mörder geworden? Wieso passt der einen Elfjährigen, der ihn flüchtig kennt, auf dem Weg zum Bus ab, lockt ihn unter einem Vorwand in seine Wohnung, verschließt ihm mit Klebeband den Mund und, als der Junge zu schreien versucht, auch die Nase?

Wie kann so einer zusehen, zwei, drei, vier ewig lange Minuten, wie der Junge im Todeskampf zappelt, bis alles Leben in ihm erstickt - und dann drückt er ihn noch im Bad in der Wanne unters Wasser, um sich zu vergewissern, dass er auch ja tot ist?

Plan und Ruhe

Wie kann einer so kalt sein, mit der Leiche im Kofferraum am Elternhaus des Ermordeten vorbeizufahren, wo er den Erpresserbrief mit der Eine-Million-Euro-Forderung in die Einfahrt wirft - "eine Summe, die Ihr Sohn Ihnen wert sein müsste", wie er darin schreibt?

Zwei Wörter sind es, die im Laufe dieses Prozesses eine besondere Rolle spielen. Plan. Und: Ruhe. Immer wieder kommt Magnus G. auf diesen Plan zu sprechen. Der war für ihn nicht bloß ein Zettel, auf dem er seine Schritte festhielt.

Der sei eine Macht über ihn gewesen. Weil er im Grunde nicht nur ein unsicherer, sondern auch ein rechtschaffener Mensch sei, habe er ein Konstrukt gebraucht, das ihm Halt gab auf dem ungeheuerlichen Weg.

Denn einerseits regte sich das Gewissen: Du darfst das nicht machen. Andererseits ging ihm das Geld aus, und ohne Geld fürchtete er, aus dem Kreis der reichen Freunde zu fallen und die 16-jährige Freundin zu verlieren.

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er sich einer Clique zugehörig fühlte. Und sie war die erste Freundin. "Ich klammerte mich an das, was ich mir im Kopf zurechtgelegt hatte", jenen Plan für die Tat, die doch gar nicht passte zu seinem Wesen, dem eigentlichen. Sagt er. "Dieser Plan, und seine schreckliche Zwangsläufigkeit", so redet Magnus G.

Er hat lange nicht zugegeben, dass Jakob von Anfang an sterben sollte. Er hat statt dessen gesagt, in seinem Plan sei vorgesehen gewesen, "dass Ruhe ist", und zwar in dem Augenblick, da er Jakob den Mund verklebte. Und nur weil er Angst bekam, dass die Nachbarn dessen Schreien hören könnten, habe er ihn umgebracht. "Ich musste diese Ruhe haben."

Um sich und seine Bedürfnisse kreist das Denken dieses Angeklagten, ausschließlich, und die bittere Ironie des Falles ist, dass es letztlich diesem Wesenszug noch zu verdanken ist, wenn Magnus G. im Prozess nicht ohne Chancen ist.

Er wollte nämlich auch nach der Festnahme, im Polizeipräsidium, "am liebsten meine Ruhe haben".

Er wollte dem ultimativen Konflikt mit den Beamten ausweichen. "Ich hatte Angst davor, was passiert, wenn ich sage, dass der Junge tot ist." So versuchte er es mit Geschichten über Verstecke und angebliche Mittäter, in Kauf nehmend, dass bei denen dann ein Sondereinsatzkommando die Wohnungen stürmen würde.

Ein Kriminalbeamter berichtet, wie er nach Stunden schließlich drei Fragen auf einen Zettel schrieb:

1. Befindet Jakob sich irgendwo alleine? 2. Oder ist er unter Bewachung/Aufsicht? 3. Oder befindet er sich nicht mehr am Leben?

Der Verdächtige sah sich den Zettel an. Und schwieg. "Ich habe ihn dann dazu bewegt", sagt der Polizist, "diejenige Frage anzukreuzen, die in Frage kam." Magnus G. kreuzte die 2 an; aber ganz klein nur, so klein, dass der Richter Bachl sich nun auf dem Zettel die Markierung zeigen lassen muss von dem Polizisten.

Erkaufte Freundschaften

Natürlich hat er die Beamten, die um den vermeintlich noch lebenden Jungen kämpften, mit dieser Ego-Fixiertheit in den Wahnsinn getrieben.

Das bekannte Ergebnis war, dass sich der Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner zu jener Folterandrohung hinreißen ließ, nach der Magnus G. sofort gestand. Aber weil ein erpresstes Geständnis für nichtig erklärt werden muss, hing es nun von dem Angeklagten ab, ob man ihn in einem Prozess von überschaubarer Länge würde überführen können.

Bereits am zweiten Tag hat Magnus G. die Tat geschildert. Die Staatsanwälte werden an diesem Donnerstag auf "Lebenslänglich" plädieren. Die Strategie seines Anwalts ist, wenigstens einen Bonus herauszuholen.

Dass nicht auch noch die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird, wie es bei einer solchen Tat eigentlich zu erwarten ist.

Nur dann hätte sein Mandant eine Chance, nach 15 Jahren auf Bewährung freizukommen.

Der kritische und nüchterne Richter

Was soll man halten von der Kooperation? Hans Bachl ist ein Vorsitzender, der auf Sachlichkeit bedacht ist in diesem so aufwühlenden Verfahren, der auf Formen achtet und fürsorglich ist:

"Geht's unserem Herrn G. einigermaßen? Haben Sie etwas zu trinken?"

Und dennoch soll Herr G. nie auf den Gedanken kommen, sein Richter wollte ihm Auswege eröffnen. Dieser hat schon an jenem zweiten Verhandlungstag bezweifelt, dass der Angeklagte sein Opfer nur betäuben wollte, mit Wodka.

Und als Magnus G. die Geschichte vor zwei Wochen endlich widerruft und sagt, er habe den Mordplan lange vor sich selbst nicht eingestehen können, jetzt aber, nach langem Nachdenken in der Haft, sehe er die Dinge klar - da fragt der Richter sofort:

"Sind die Zweifel, die das Gericht geäußert hat, der Grund für diese Einlassung?"

Alle suchen das Tatsächliche dieses Charakters. Mit einem Angeklagten haben sie es zu tun, der sich in den falschen Film geraten sieht. Es war ja der Mangel an Selbstbewusstsein, weshalb er als Jugendlicher die Freundschaft zu Kindern suchte, und als Erwachsener zu Jugendlichen.

Wie einsam musste einer sein, der meinte, sich auch die Freundschaft zu Kindern erst mal erkaufen zu müssen, mit Freikarten fürs Kino? Welche Sehnsüchte waren da in einen gefahren, der sein Selbstwertgefühl daraus bezog, dass er bei Ibiza-Aufenthalten lange mit den Freunden aus besserem Hause mithalten konnte, wenn auch vom Ersparten?

Und als das Geld langsam schon zu Ende ging, traf er ein Mädchen wie die 16-jährige K., die Wert auf Gucci und Tiffany legt und stundenlang schmollte, wenn der neue Freund einmal passen musste.

Der Psychiater und der Psychologe haben das registriert. Sie sprechen vom Wunschbild, das Magnus G. hat, genau genommen von zweien. Das erste war: mehr zu sein, als er je war.

Deshalb auch die Prahlerei sogar vor flüchtigen Bekannten, schon die Stelle in einer großen Kanzlei sicher zu haben. Das zweite Wunschbild ist: Trotz seiner Tat als ein im Grunde guter Mensch zu gelten.

Getan, was er tun wollte

Der Essener Psychiater Leygraf gehört zu den Kapazitäten seines Fachs, und er lässt wenig übrig von diesem Bild. Wenn Magnus G. sich quasi als Opfer eines Plans beschreibe, den er freilich selbst entworfen habe, so heiße das nichts anderes als: Er hat getan, was er tun wollte.

Und wenn er angebe, zwar die Entführung akribisch geplant zu haben, nicht aber die Tötung, sagt Leygraf, dann passt das durchaus ins Schema. Er arbeitet mit solchen Tätern seit Jahren. "Dass man den Jungen umbringen wird, ist klar. Aber wie das in aller Brutalität vor sich gehen wird, das stellt man sich dann vorher lieber doch nicht vor."

Es ist nicht das erste Mal, dass Magnus G. seine dunkle Seite zeigt. Einem Kommilitonen klaute er die Breitling-Uhr. Einem Tankwart drohte er am Telefon.

Außerhalb des Gerichtssaals ist zu hören, dass er Anfang der Neunzigerjahre, als Betreuer im Zeltlager, mit einem 13-Jährigen Entführung spielte - demselben Jungen drohte er 1994 den Tod an, falls dieser die Freundschaft zu ihm beende.

"Das mag angesichts des Tatvorwurfs banal sein", sagt Leygraf. "Aber es ist ein Hinweis, dass er zu Taten bereit ist, die man ihm von außen nicht zutrauen würde."

So sei das die Aufgabe, vor der Magnus G. in den nächsten Jahren stehen werde: zu erkennen, dass er nicht nur der freundliche Mensch sei. Dass er sich schrittweise korrumpiert habe. Leygraf sagt: "Es gibt keine persönlichkeitsfremden Handlungen. Jedes Bild, das man von einem Menschen hat, auch das von sich selber, bildet immer nur einen Teil ab."

Nachdem der Sachverständige fertig ist, warten draußen wieder die Reporter. Der Verteidiger Endres redet sich in Rage. Diese Gutachter hätten alle Beteiligten allein gelassen, mit den quälenden Fragen:

Wie ein solcher junger Mann zu einer solchen Tat komme. Wann sein Gewissen ihn verlassen habe. Dabei hatte sich auch Leygraf die Frage gestellt, vorhin, im Saal: "Wie schafft es einer, Elena von Metzler zu bitten, ihm bei der Auswahl des Schmucks für seine Freundin zu helfen, und gleichzeitig plant er die Ermordung ihres Bruders?" Der Psychiater sah sich an den Grenzen seines Fachs. "Das zu erklären, gelingt mir nicht."

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