Süddeutsche Zeitung

Kältewelle in Europa:Wenn die Republik erzittert

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Kein Alkohol, keine Küsse, nicht an Laternenmasten lecken: Wer sich in diesen Tagen im Freien aufhält, muss aufpassen. Eine kleine Aufbau- und Auftauhilfe bei minus 20 Grad.

Werner Bartens

Rilke hatte recht: Wer jetzt kein Thermometer hat, kauft sich keines mehr. Denn so kalt wie in der vergangenen - und der kommenden - Nacht wird es diesen Winter wohl nicht mehr. Die Pfütze im Garten hat sich zum hauseigenen Funtensee verwandelt, der täglich mit neuen Temperaturrekorden protzt. Doch obwohl unsere Urahnen Eiszeiten überstanden haben, scheint der moderne Mensch für Kälte nicht gemacht zu sein. Zwar bedeckt er Hunde und anderes Kleinvieh mit Hüftwärmern, auf sich passt er aber nur ungenügend auf.

Auch wenn es zur unerträglichen Folklore Schweizer Bergführer gehört, Hunden ein Schnapsfässchen an den Hals zu binden, hat Alkohol in der Kälte nichts zu suchen. Vordergründig wärmt Hochprozentiges, tatsächlich verengt es die Blutgefäße, so dass der Körper schneller auskühlt. Zudem führt Alkohol wie auch Schmerzmittel und Drogen dazu, dass die Bedrohung durch die Kälte nicht richtig wahrgenommen und die Gefahr unterschätzt wird.

Zärtlichkeiten in der Kälte auszutauschen, kann ebenfalls nicht empfohlen werden. Das wärmt innerlich, aber gerade bei intensiven Küssen kann Körperflüssigkeit gefrieren und den Mund-zu-Mund-Kontakt unangemessen verlängern. Noch gefährlicher ist es, an Laternenmasten oder Schildern zu lecken, denn Körpergewebe gefriert schnell fest, sobald es bei Minusgraden in Kontakt mit Wärmeleitern wie Metall kommt.

Bei Joggern, Soldaten, Jägern, Bergsteigern und anderen Fachkräften, die sich in der Kälte anstrengen müssen oder wollen, werden die Atemwege strapaziert. Rachen, Luftröhre und Bronchien sind mit Schleimhaut ausgekleidet und teilweise mit Flimmerhärchen bedeckt. Das Gewebe ist feucht und daher besonders kälteempfindlich. Gegen den stechenden Schmerz in Rachen und Lunge hilft es meist, durch die Nase statt durch den Mund zu atmen oder durch einen Schal oder Kragen.

Wer sich lange in der Kälte aufhält, bei dem sind die Extremitäten besonders gefährdet. Mehrere Schichten Kleidung schützen Hände wie Füße, genügend Bewegungsspielraum für Finger und Zehen ist wichtig. In einschlägigen Foren wird von Kälteschäden der Penisspitze bei Joggern berichtet. Teilnehmer von Polarexpeditionen urinieren im Zelt in Flaschen oder mit Hilfe spezieller Kathetervorrichtungen, um dem vorzubeugen.

Bei gleicher Temperatur und Kleidung frieren Frauen stärker als Männer. Das liegt an ihrer im Vergleich geringeren Muskelmasse, denn durch Muskelbewegung freigesetzte Energie ist die stärkste Wärmequelle des Körpers. Weil Kinder im Verhältnis zur Körpermasse eine größere Oberfläche haben, geht bei ihnen schneller Wärme verloren. Allerdings ist ihr Bewegungsdrang zumeist größer, daher frieren sie nur dann leichter, wenn sie sich weitgehend ruhig verhalten.

Bei Unterkühlung ist der gesamte Organismus betroffen. Zunächst erzeugt der Körper mit erhöhtem Muskeltonus und Zittern Wärme. Herz und Atem rasen, Blutgefäße verengen sich. Sinkt die Körperkerntemperatur weiter, verlangsamen sich Puls, Atmung und Stoffwechsel; die Orientierung geht verloren. Für Laien sind Erfrierungen nicht leicht zu erkennen, denn "tiefgefrorenes Gewebe kann wachsbleich, gesprenkelt, gelb oder bläulichweiß aussehen", wie Harrisons Lehrbuch Innere Medizin verrät.

Bei Erfrierungen hilft 37 bis 40 Grad warmes Wasser am besten. Das Auftauen sollte nicht zu früh beendet werden, obwohl es schmerzt, wenn das Gewebe wieder durchblutet wird. Schäden drohen, wenn gefrorenes Gewebe gerieben oder massiert wird. Darunter litt zum Beispiel Maurice Herzog, der als erster Mensch auf einem Achttausender stand. Nach der Erstbesteigung der Annapurna 1950 schleppte sich der Franzose mit Erfrierungen ins Tal. Dort schlugen seine Begleiter mit Seilenden auf Hände und Füße des Gipfelstürmers. Die Prozedur sollte die Durchblutung anregen, schädigte Herzogs Gewebe aber nur noch mehr.

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SZ vom 04.02.2012
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